Bremen: Bürgernah, aber nicht direktdemokratisch

Bremen: Bürgernah, aber nicht direktdemokratisch

Street Art in Bremen: Was direktdemokratische Beteiligungsverfahren betrifft, sind die Grünen in Bremen noch auf der Suche — Bildnachweise

Einen großen Teil ihrer demokratiepolitischen Agenda haben die Bremer Grünen in zwei Legislaturen Regierungsbeteiligung eingelöst. Die Forderungen im Wahlprogramm für 2015 fallen bescheiden aus.

Bei den Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft im Mai 2015 streben die Bremer Grünen zum dritten Mal in Folge eine Beteiligung in der Landesregierung an ‒ damit wären sie die erste grüne Landtagsfraktion, der dies gelingen würde. Was jedoch bedeutet eine so lange Regierungszeit für die demokratiepolitische Agenda der Landespartei? Was hatte sie sich 2007 vorgenommen, was wurde umgesetzt und wie haben sich die Vorstellungen von Demokratiepolitik seitdem verändert?

Die Beiräte – Ausbau der kommunalen repräsentativen Demokratie

Ein Spezifikum der politischen Struktur Bremens sind die Beiräte. Diese haben auf kommunaler Ebene den Status nachgeordneter Verwaltungsausschüsse, weisen dabei aber Elemente der politischen Selbstverwaltung im Stadtteil auf. Die ersten Bremer Beiräte und Ortsämter wurden 1946 zum Aufbau von Verwaltungsstrukturen in den eingemeindeten Stadtteilen gegründet. Um Beteiligungsmöglichkeiten zu erhöhen und die Verwaltung bürgernah zu gestalten, wurde diese Struktur in den 1970er-Jahren für die innerbremischen Stadtteile übernommen. Die Mitglieder der Beiräte werden parallel zur Bürgerschaft nach Parteilisten gewählt ‒ im Unterschied zu den Bürgerschaftsabgeordneten jedoch ohne Fünf-Prozent-Klausel. Zudem üben sie ihr Mandat ehrenamtlich aus.

Die Interessen und Kompetenzen der Beiräte liegen zunächst in ihrem eigenen Stadtteil. Dort kümmern sich die Beiräte sowie die zugehörigen Ortsämter um die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, um Planungsvorhaben und Infrastrukturentwicklung. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind der Umgang mit Wünschen, Anregungen und Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern, die Unterstützung von Vereinen oder Initiativen sowie der Kontakt zu senatorischen Behörden. Die Sitzungen der Beiräte sind grundsätzlich öffentlich. Von den Beiräten und Ortsämtern organisierte Einwohnerversammlungen, Bürgerforen und Runde Tische dienen der Information und Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Planungsvorhaben im Stadtteil.

Im Wahlprogramm 2007, das noch aus der Opposition heraus formuliert worden war, forderten die Bremer Grünen weitreichendere Entscheidungs- und Beteiligungsbefugnisse der Beiräte, darunter die Wahl der Leiterinnen und Leiter von Ortsämtern, Budget-Mitspracherechte sowie das Rederecht in der Bürgerschaft bei Konflikten zwischen Senat und Beiräten. Diese Forderungen wurden während der ersten Legislaturperiode durch eine Novellierung des Beirätegesetzes umgesetzt, die von Grünen, SPD und CDU gemeinsam verabschiedet wurde. Neben einer erheblichen Stärkung der Informations-, Mitwirkungs- und Entscheidungsrechte der Beiräte können diese nun bei den senatorischen Ressorts Anträge für Stadtteilbudgets stellen.

Des Weiteren wurden regelmäßige Planungskonferenzen eingeführt, auf denen die Senatsressorts den Beiräten ihre Pläne bezüglich der Stadtteile vorstellen, damit die Beiräte frühzeitig Stellung beziehen können. Im Streitfall zwischen senatorischen Behörden und Beiräten gilt in einer Reihe von Fragen ein Einvernehmensverfahren. In diesem können die Beiräte auch eine Erörterung der Angelegenheit vor der Stadtbürgerschaft beantragen, in der die Sprecherinnen und Sprecher der Beiräte ein Rederecht in der Bürgerschaft haben. Ebenso wurde im Gesetz die Forderung nach der Wahl der Ortsamtsleiterinnen und -leiter durch die Beiräte verankert, in deren Anschluss der Senat die gewählte Person beruft.

Auf die Änderung des Beirätegesetzes folgte im grünen Wahlprogramm 2011 die Forderung nach dessen Evaluation und eventuellen Korrekturen. Bereits abzusehen war, dass die Wahl der Ortsamtsleiter/-innen den Einstellungsvorschriften des Beamtengesetzes widersprach und unterlegene Bewerberinnen und Bewerber deshalb Klagemöglichkeiten hatten. Hier forderten die Grünen 2011 eine rechtssichere Konstruktion des Bestimmungsverfahrens.

Die Evaluation des Gesetzes von 2014[1] hebt positiv hervor, dass die “Position der Beiräte im institutionellen Gefüge Bremens erheblich gestärkt” und “der Bürger‐ und Jugendbeteiligung ein größerer Stellenwert eingeräumt” wurde. Gleiches gelte für die “in Aussicht gestellten Stadtteilbudgets”, die bisher jedoch nicht umgesetzt wurden. Das Gesetz stärke damit die Stadtteile und deren partizipative Strukturen. Kritisiert wird dagegen die “rechtlich nicht eindeutige Verankerung der Beiräte in der institutionellen Gesamtstruktur Bremens”, die zu Konflikten über Kompetenzen und Rechte zwischen Beiräten und Senat bzw. senatorischen Behörden führe. Sollten die bürgernäheren Beiräte sich in Konflikten tatsächlich gegenüber den senatorischen Behörden behaupten können, seien Änderungen nötig.

Als weiteren Schwachpunkt des Gesetzes macht der Bericht den erheblichen Arbeitsmehraufwand für die Beiräte aus, der aus den neuen Kompetenzen resultiere. Dieser führe in den Beiräten neben der starken Belastung zu hoher Fluktuation. Tatsächlich ist dies für die meisten Parteien eine Herausforderung: Aufgrund der erheblichen Arbeitsbelastung für die ehrenamtlichen Mitglieder ist es in vielen Stadtteilen schwierig, Menschen für eine Kandidatur zu motivieren. Insbesondere die im Sinne der geschlechtergerechten Repräsentanz quotierten Listen der Grünen sind mangels Kandidatinnen und Kandidaten teilweise schwer aufrechtzuerhalten. Wie die Attraktivität der Mitarbeit in den Beiräten zukünftig insbesondere für Frauen erhöht werden kann (beispielsweise durch Kinderbetreuungsangebote während der Sitzungen), ist eine bislang ungelöste Herausforderung grüner Kommunal- und Landespolitik.

Das Wahlrecht

Weiteren Reformbedarf kündigten die Grünen 2007 im Bereich des Wahlrechts an. 2009 senkte die rot-grüne Koalition das Wahlalter für die Bürgerschaft entsprechend auf 16 Jahre ab ‒ Bremen tat dies als erstes Bundesland. Die Bestrebungen, das kommunale Wahlrecht zur Stadtbürgerschaft und den Beiräten auch auf Nicht-EU-Bürgerinnen und -bürger zu erweitern, scheiterten an rechtlichen Bedingungen – eine Grundgesetzänderung auf Bundesebene wäre dafür notwendig.[2] Zusätzlich unterstützten die Grünen aus der Opposition das Volksbegehren zur Wahlrechtsreform von 2006, welches den Wählerinnen und Wählern mehr Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Bürgerschaft und der Beiräte einräumen sollte.[3]

Volksbegehren und direkte Demokratie

Sowohl im Wahlprogramm zur Bürgerschaftswahl 2007 als auch zur Wahl 2011 formulierten die Grünen das Ziel, Hürden und Quoren für Volksbegehren und Volksentscheide zu senken. Die benötigte Unterschriftenzahl für ein Volksbegehren sollte auf fünf Prozent der Wahlberechtigten gesenkt werden und das Zustimmungsquorum bei Volksentscheiden auf 20 respektive 33 Prozent für Gesetzes- bzw. Verfassungsänderungen.

Diese Vorhaben wurde 2009 und 2013 in parteiübergreifenden Anträgen teilweise umgesetzt: Die Hürden für Volksbegehren wurden abgesenkt, das Verbot von Eingriffen in den Landeshaushalt über Referenden abgeschafft und das Zustimmungsquorum für Gesetzes- und Verfassungsänderungen auf 20 bzw. 40 Prozent festgesetzt. Zudem wurden in einem bundesweit ersten Fall Regelungen für ein Privatisierungsreferendum verabschiedet: Über Privatisierung städtischer Gesellschaften sollen nun die Bürgerinnen und Bürger abstimmen können.

Diese Reformen reichen dem Verein “Mehr Demokratie” in Bremen/ Niedersachsen jedoch nicht. Angesichts der geringen Bilanz von Volksentscheiden in Bremen, von denen seit 1994 nur ein einziger beschlossen wurde und viele weitere vom Senat abgelehnt wurden oder an mangelnden Unterschriften scheiterten, fordert der Verein weitergehende Änderungen. So sollen Volksentscheide in allen Themenbereichen, über welche die Bürgerschaft entscheiden kann, möglich und für Verfassungsänderungen sogar obligatorisch sein. Das Zustimmungsquorum für diese Entscheide soll zudem noch einmal gesenkt werden. Ebenso sollen Finanzreferenden eingeführt werden, in denen die Bürgerinnen und Bürger über größere Ausgaben und Investitionen des Landes entscheiden sollen. Zusätzlich soll auch die Möglichkeit einer elektronischen Unterschrift bei Volksbegehren eingeführt werden.

In ihrem Wahlprogramm von 2015 nehmen die Grünen diese letzte Forderung auf, verhalten sich zu weiteren Einbeziehungsmöglichkeiten jedoch nicht. Ihre Forderungen zu direktdemokratischen Entscheidungsverfahren bleiben unkonkret und wenig ambitioniert. Hier spiegeln sich offensichtlich die Erfahrungen von 2014 im Konflikt um eine mögliche Rekommunalisierung der Müllabfuhr wider: Die Konzession der 1998 privatisierten Müllabfuhr läuft 2018 aus; eine zukünftige Regelung muss daher entschieden werden. Statt den Grünen, die in ihrem Wahlprogramm 2007 forderten, große Projekte in Volksentscheiden abstimmen zu lassen, leitete ver.di ein Volksbegehren ein. Die Grünen hatten sich schon frühzeitig gegen eine vollständige Rekommunalisierung positioniert, da diese aus ihrer Sicht für das Haushaltsnotlageland zu teuer wäre.

Nach Gesprächen und Erörterungen der Initiatoren mit den Fraktionen von SPD und Grünen – jedoch ohne breites Beteiligungsverfahren oder einen Volksentscheid – entschied der Senat im Juni 2014, dass mehr kommunaler Einfluss angestrebt werden solle, allerdings lediglich als Minderheitenbeteiligung an einer weiterhin privat geführten Müllentsorgung. Regierungspolitik steht hier im Spannungsfeld zwischen sicher verantwortbarer Politik im Rahmen der (finanziellen) Möglichkeiten und dem Ideal direktdemokratischer Entscheidungsfindung. Im Unterschied zu 2007 finden sich im Programm zur Bürgerschaftswahl 2015 keine Forderungen mehr, große Projekte in Volksentscheiden abstimmen zu lassen.[4]

Transparenz und Informationsfreiheit

Im Anschluss an das Informationsfreiheitsgesetz von 2006, das freien Zugang zu Verwaltungsdokumenten einräumt, forderten die Grünen 2007 dessen Nachbesserung. 2011 wurde diese umgesetzt: Verwaltungsdokumente, die online gestellt werden müssen, wurden präziser benannt, um Unklarheiten auszuräumen und die Veröffentlichung für die Verwaltung zu vereinfachen. Probleme bestanden zu diesem Zeitpunkt weiterhin in der schlecht nachvollziehbaren Verschlagwortung sowie bei der Suchfunktion der Webseite.[5]

Das derzeitige Gesetz läuft Ende 2015 aus. Grüne und SPD stellten in der Bürgerschaft bereits Ende 2014 einen Antrag zur Ausweitung des Gesetzes auf “alle Verträge ab 100.000 Euro (bei Gutachterverträgen ab 5.000 Euro), Entgeltvereinbarungen oder auch die wesentlichen Regelungen von Baugenehmigungen” sowie für eine unverzügliche proaktive Veröffentlichungspraxis.[6] Im März wird sich der zuständige Ausschuss weiter mit der Gesetzesvorlage befassen.

Fazit und Ausblick auf das Wahlprogramm 2015

Mit Blick über zwei Legislaturperioden und drei Wahlprogramme stellten die Grünen vor allem 2007 aus der Opposition heraus demokratiepolitische Forderungen. Diese wurden in den letzten beiden Legislaturperioden sukzessive aufgenommen: Angefangen bei der Reform des Wahlrechts und der Senkung des Wahlalters über die Stärkung von Beiräten bis hin zur Senkung von Quoren für Volksbegehren wurden viele der Wahlversprechen im demokratiepolitischen Bereich eingelöst. Bei den Reformen, die bereits in der ersten Legislaturperiode umgesetzt werden konnten, wurden für die zweite Legislaturperiode Evaluationen und Nachbesserungen gefordert.

Diese wurden teilweise begonnen, verlaufen jedoch auch schleppend, wie bei der Reform des Beirätegesetzes und der Einführung von Stadtteilbudgets. Im Gegensatz zur umgesetzten Vereinfachung von Volksentscheiden und -begehren zeigt das Beispiel der Rekommunalisierung der Müllabfuhr in Bezug auf konkrete direktdemokratische Prozesse, dass die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger gegen die Parteiposition auch in grüner Debatte den Kürzeren ziehen kann. Der demokratiepolitische Schwerpunkt liegt eher auf der Beiratsarbeit – also mehr auf bürgernaher repräsentativer Demokratie als auf direktdemokratischen Elementen.

Nach den Reformen in den letzten acht Jahren werden für die Legislaturperiode ab 2015 kaum konkrete Forderungen aufgestellt. Das aktuelle Wahlprogramm bezieht sich auf den begonnenen Prozess des “Entwicklungsplans Bürgerbeteiligung”, der fortgeführt und zu dem Anfang 2015 ein Papier vorgelegt werden soll. Der Schwerpunkt im Kapitel “Demokratische Teilhabe, Sicherheit, Justiz und Sport” liegt in der “geschlechtersensiblen Gestaltung” von Beteiligungsprozessen. Auch dies ist eine Forderung grüner Beteiligungsdemokratie und deshalb als Ansatz nachvollziehbar; gleichzeitig fehlen jedoch auch hier konkrete Forderungen.

Ein Vorschlag der Landesarbeitsgemeinschaft Frauenpolitik für ein Parité-Gesetz wurde vor der Bürgerschaftswahl grün-intern ausgebremst. Die häufigen Bezüge auf frühere Leistungen im aktuellen Wahlprogramm sowie die Konzentration auf begonnene Regierungsprojekte weisen darauf hin, dass sich die Grünen auch in ihrem Selbstverständnis als Regierungspartei etabliert haben. In dieser Funktion agieren sie in einem Spannungsfeld zwischen demokratiepolitischen Verfahrens- und inhaltlichen Politikentscheidungen.

 

Zum Weiterlesen:

  • Klaus Wolschner: Demokratie und Bürgerbeteiligung - ein Bericht aus dem rotgrün regierten Bremen (PDF)
 

[1] Die Evaluation wurde 2013 von der Bürgerschaft beschlossen und 2014 durchgeführt: Probst, Lothar et al. (2014): Bericht zur Evaluation des Ortsgesetzes über Beiräte und Ortsämter vom 2. Februar 2010 (erstellt im Auftrag der Senatskanzlei Bremen) (PDF).

[2] Pressemitteilung der Grünen (15.09.2009): Wahlrechtsreform: 16-Jährige dürfen Landtag wählen.

[3] Die durchaus auch ambivalenten Auswirkungen dieser Wahlrechtsänderung von 2009 beschreibt Lothar Probst.

[4] Eine weiterführende Diskussion des Konflikts ist bei Wolschner (2015) auf der Homepage der Heinrich-Böll-Stiftung in Bremen zu lesen (PDF).

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Bärbel

Wahlen in Bremen im NOVEMBER 2015? Am kommenden Sonntag wird gewählt - 10.Mai
Ansonsten: prima Text!

Besten Dank, ist geändert! Grüße aus der Online-Redaktion.