Schleswig-Holstein: Zwischen Dialog und Durchregieren

Schleswig-Holstein: Zwischen Dialog und Durchregieren

Der Landtag in Kiel — Bildnachweise

In Schleswig-Holstein ist der Rahmen für ein Mehr an Partizipation gesetzt und Ansätze für verstärkte Einbeziehung der BürgerInnen sind sichtbar. In der Bildungspolitik aber ist Rot-Grün von einem "neuen Politikstil" weit entfernt.

Schleswig-Holstein gilt in politischer Hinsicht als raues Bundesland, in dem es immer wieder zu starken Konflikten innerhalb und zwischen den Parteien kommt sowie erhebliche Konfrontationslinien zwischen einzelnen politischen Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern auftreten. Diese medial vielfach diskutierten Auseinandersetzungen und Verwerfungen führten zu einem Akzeptanzverlust der Politik bei den Bürgerinnen und Bürgern. Aufgrund dieser Entwicklungen sind Vorhaben zur Stärkung der Demokratie besonders bedeutend. Im Koalitionsvertrag der jetzigen Koalition (Rot-Grün und SSW) von 2012 lassen sich einige Elemente finden, die für den Versuch einer Erneuerung der Demokratie stehen – beispielsweise die Ankündigung, einen „neuen Politikstil“ zu etablieren und auf stärkere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger zu setzen. Die politische Praxis der Koalition zeigt jedoch ein ambivalentes Bild in Bezug auf die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger sowie der von der Landespolitik besonders betroffenen Gruppen.

Leitend für die hier vorgelegte vorläufige Bestandsaufnahme sind die beiden von Roland Roth herausgearbeiteten Pfeiler der Demokratiereformen: Partizipation und Inklusion.[1] Partizipation umfasst dabei „das Recht gehört zu werden und das Recht mitzuentscheiden“. Inklusion beinhaltet die Einbeziehung von „formell in ihren politischen Rechten beschnittene[n] Bevölkerungsgruppen“[2] (Kinder oder Einwohner ohne deutsche Staatsangehörigkeit); sie meint aber auch politische Anstrengungen, durch welche die bisherige faktische Nichtbeteiligung einiger Bevölkerungsgruppen verringert wird.

Darüber hinaus soll hier die Dimension der politischen Kultur der Responsivität Berücksichtigung finden. Dabei geht es nicht so sehr um die „tatsächliche“ Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sowie ihrer kollektiven Zusammenschlüsse in Form von Anhörung und Mitentscheidung oder den formalen und/oder faktischen Zugang möglichst aller Bevölkerungsgruppen, sondern vielmehr um die positive Haltung der politischen und bürokratischen Institutionen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern sowie den von ihnen angestrebten und/oder praktizierten Beteiligungsformen. Die Dimension der Responsivitätskultur gibt Aufschluss über die Wertüberzeugungen innerhalb politischer und administrativer Institutionen, mithin Werte, die sich erstens in der Ausgestaltung und Strukturierung sowie den Machtbefugnissen und -grenzen der Institutionen und zweitens in der Interaktion zwischen Individuum, sozialen Akteuren und Institutionen niederschlagen.

Demokratiepolitische Reformvorhaben der Landesregierung

Im Koalitionsvertrag Bündnis für den Norden – Neue Horizonte für Schleswig-Holstein erteilen SPD, Grüne und SSW einer „Politik des Durchregierens“ eine Absage und erklären den Anspruch, künftig die Demokratie durch den Ausbau von Beteiligungsmöglichkeiten zu stärken. Ein „neuer Politikstil“[3] soll Einzug in alle Policy-Bereiche halten und die Koalitionspolitik insgesamt bestimmen. Neben dieser umfassenden, aber auch sehr allgemein gehaltenen Ankündigung wurden im Bündnis für den Norden einige Bereiche explizit festgehalten, in denen die Koalition die demokratische Teilhabe erhöhen möchte, wobei der Bildungspolitik ein besonders großer Stellenwert zugesprochen wurde. Hier hat die Landesregierung angekündigt, eine Bildungskonferenz zu initiieren und „im Dialog mit allen“[4] (Akteurinnen und Akteuren aus Schule, Gesellschaft, Kommunen und einzelnen Fraktionen) über die einzelnen Bildungsetappen und deren konkrete Ausgestaltung zu sprechen. In Verbindung damit ist auch die recht vage formulierte, von der Regierung angestrebte Entwicklung der Demokratieoffensive in Schleswig-Holsteins Schulen und Kitas zu sehen.

Diese – vorrangig auf ein Mehr an Partizipation abstellenden – Ziele innerhalb des im föderalen System sehr prominenten Bereichs der Bildungspolitik werden durch Bestrebungen in weiteren Bereichen ergänzt. So enthält der Koalitionsvertrag auch die Ankündigung, neue (verfassungs-)rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen – etwa die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre (Landtagswahl), die Einführung eines allgemeinen Wahlrechts für Ausländerinnen und Ausländer auf kommunaler und Landesebene sowie die Absenkung gesetzlicher Hürden für Volksinitiativen und Bürgerbegehren.

Daneben findet sich auch das recht allgemein gehaltene Ziel des „parteiübergreifenden Konsens in der Minderheitenpolitik“[5], zu dem wohl auch der im Koalitionsvertrag erwähnte Fokus auf junge Menschen mit Migrationshintergrund und bildungsferne Familien sowie die Bekämpfung von Benachteiligung und sozialer Ausgrenzung gezählt werden können.

Tabelle 1: Anvisierte Maßnahmen für einen "neuen Politikstil" im Koalitionsvertrag 2012

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Daneben zeigen sich weitere Initiativen der Regierung als demokratiepolitisch relevant: Insbesondere die im Koalitionsvertrag zwar ausbuchstabierte, aber nicht explizit mit dem „neuen Politikstil“ in Verbindung gebrachte Energiewende. Auch die Agrarpolitik kann als ein Demokratiereformprojekt angesehen werden, innerhalb dessen ein „neuer Politikstil“ zu praktizieren versucht wird (vgl. nächster Abschnitt).

Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die verstärkten Bemühungen in Richtung digitaler Bürgerbeteiligung. Reformanstrengungen wurden dazu auch von einzelnen Gemeinden und den dort Aktiven initiiert. So haben beispielsweise die Grünen in Pinneberg den „OpenAntrag“ eingeführt, durch den Bürgerinnen und Bürger ihre Ideen in digitaler Form an die Politik schicken können, die dann in den entsprechenden Ausschüssen eingebracht werden. In den Kreisen Steinburg und Segeberg wurde „OpenAntrag“ bereits zu einem früheren Zeitpunkt von der Piratenpartei entwickelt. Neben der digitalen Bürgerbeteiligung testet die Stadt Wedel momentan zudem eine Online-Sprechstunde und einen sogenannten Mängelmelder auf seiner Online-Plattform.

Welche der im Koalitionsvertrag formulierten Vorhaben hat die Regierung bislang umgesetzt?

Bildungspolitik

In der Bildungspolitik – im Koalitionsvertrag besonders hervorgehoben – ist die Bilanz zwiespältig: Die angekündigte Bildungskonferenz hat zwar bereits im September 2012 stattgefunden und wurde auch durch sogenannte Werkstattgespräche fortgesetzt, doch das vom Parlament beschlossene Lehrkräftebildungsgesetz und die sogenannte inklusive Schule waren und sind nach wie vor umstritten.

Das Anfang 2014 ebenfalls verabschiedete Schulgesetz hat vor allem eine hoch umstrittene neue Ausbildung zum Inhalt, die mit einer gravierenden Veränderung sowohl für die Schullandschaft als auch für die Lehrerausbildung verbunden ist. Die mittlerweile zurückgetretene Ministerin Waltraud Wende vermochte es hier nicht – zumindest aus Sicht vieler von den Reformen Betroffenen –, die unterschiedlichen Ansichten von Eltern, Lehrerverbänden, Lehramtsstudierenden sowie die Lehrerausbildung durchführenden Universitäten zusammenzuführen.

Kein Minister und keine Ministerin hat mehr kritische Aufmerksamkeit auf sich gezogen als Waltraud Wende. Die Kritik bezog sich dabei nur zum Teil auf den Verdacht, den Kanzler der Universität Flensburg aus karrierestrategischen Gründen unter Druck gesetzt zu haben. Vielmehr stand die Ministerin für die Inhalte ihrer Politik und deren Durchsetzung stark in der öffentlichen Kritik. Der bei der Ministerin wahrgenommene Regierungsstil erschien den Betroffenen in Schulen und Universitäten jedenfalls nicht angeleitet von dem Bemühen um Transparenz und Inklusion der unterschiedlichen Sichtweisen.

Verfassungsreform

Der im April 2013 eingerichtete „Sonderausschuss Verfassungsreform“ hat dem Landtag und der Öffentlichkeit einen Gesamtvorschlag zur Änderung der Landesverfassung vorgelegt, der in mehreren Etappen unter breiter Einbeziehung der Öffentlichkeit diskutiert worden ist. Im Oktober hat der Landtag eine neue Verfassung verabschiedet.[6] Darin ist festgelegt, dass die Schulen der dänischen Minderheit mit derselben Höhe zu finanzieren sind wie öffentliche Schulen (Art. 12), die Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide gesenkt werden (Art. 50), der elektronische Zugang zu den Behörden und Gerichten zu ermöglichen ist (Art. 14 und Art. 47) und amtliche Informationen zur Verfügung zu stellen sind, soweit nicht entgegenstehende öffentliche oder schutzwürdige private Interessen überwiegen (Art. 54).

Zudem wurden die Inklusion von Menschen mit Behinderung (Art. 7), der Schutz der digitalen Privatsphäre (Art. 16) und die bürgernahe Verwaltungsorganisation (Art. 53) als neue Staatsziele bestimmt. Im Parlament sind einzelne Bestimmungen (u. a. Transparenz, Art. 54) bis zum Schluss kontrovers diskutiert worden. Im Ganzen zeigt sich für die neue Landesverfassung aber, dass die Reformvorhaben in geltendes Recht umgesetzt wurden und die Dimensionen der Partizipation und Inklusion nun besser zur Geltung kommen. Allerdings wurden in der Öffentlichkeit nicht die demokratiepolitisch relevanten Reformen breit diskutiert, sondern das identitätspolitisch besonders strittige Thema, ob in die neue Präambel der Verfassung ein Gottesbezug aufgenommen werden soll.

Neuer Politikstil bei der Energiewende

Im Koalitionsvertrag wird die Energiewende ausführlich dargestellt, allerdings nur bedingt mit einer Forderung nach einem Mehr an Demokratie. Tatsächlich hat sich der mit der Energiewende notwendige Ausbau der Stromtrassen jedoch als demokratiepolitisch besonders relevant gezeigt. In den bisher gesichteten medialen Beiträgen, die über die Regierungspolitik berichten und diese kommentieren, ist vor allem auf die von Minister Robert Habeck immer wieder betonte Einbeziehung möglichst vieler Menschen (vorrangig Anwohnerinnen und Anwohner) eingegangen worden, die sich insbesondere in der Einrichtung von Runden Tischen und Bürgerdialogen niederschlug.

Neuer Politikstil in der Agrarpolitik

Auf eine ebenfalls dialogische Art und Weise scheint Robert Habeck die im Bereich Landwirtschaft angestrebten Veränderungen zu vermitteln: In mehreren Zeitungsartikeln wurde über die Bemühungen Habecks berichtet, die agrarpolitischen Ziele des Landes zu diskutieren und die Landwirte von der Umsetzbarkeit und dem Sinn dieser Maßnahmen zu überzeugen. Die Interessen der Landwirte versuchte er Berichten zufolge in angemessenem Umfang zu berücksichtigen, wenngleich nicht alle Neuerungen von den Bäuerinnen und Bauern begrüßt wurden.

Administrative Umstrukturierungen – alter Politikstil?

Es gibt auch Beispiele, die gegen einen neuen Politikstil sprechen, wie zum Beispiel die Gemeinde Leck in Nordfriesland, die sich zumindest in Teilen von der Regierung vernachlässigt sieht. Ministerpräsident Torsten Albig plant, das in Leck ansässige Zentralfinanzamt Nordfriesland zu schließen – der damalige Finanzminister Ralf Stegner hatte sich 2003 bewusst dafür entschieden –, und neue wirtschaftliche Nutzungskonzepte für den lokalen Flugplatz fehlen (Habeck will stattdessen dort wachsende Gräser unter besonderen Schutz stellen). Die Bevölkerung hat bereits mehrere Proteste organisiert. Möglicherweise ist dieser Fall ein Exempel für die Grenzen des neuen Politikstils bzw. ein Beispiel dafür, dass regionale Interessen und die vonseiten der Landespolitik als notwendig oder unvermeidlich erachteten Bedingungen nicht immer zusammengebracht werden können.

Fazit

Zusammengefasst kann gesagt werden: Die politische Praxis der Koalition zeigt ein ambivalentes Bild in Bezug auf die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger sowie der von der Landespolitik besonders betroffenen Gruppen. Auf der einen Seite tragen einige im Koalitionsvertrag festgehaltene demokratiepolitische Reformvorhaben bereits erste Früchte – etwa der Schutz und die Förderung der Sinti und Roma oder die Senkung der Quoren bei Volksentscheiden und Volksbegehren.

Zudem sind in Schleswig-Holstein weitere Reformvorhaben direkt von der Landesregierung oder auf kommunaler Ebene angestoßen worden, die neben der Reform in der Sache auch eine große Bedeutung für das Verhältnis der Bürgerschaft zum Staat haben. Gerade in der Energiewende und Agrarpolitik scheint ein dialogischer Stil zum Tragen zu kommen, der auf einen Austausch zwischen der Regierung und den von der Regierungspolitik unmittelbar Betroffenen setzt. Auf der anderen Seite ist aber zugleich auf die im Land hochumstrittene Bildungspolitik hinzuweisen, in der eher das Merkelsche „Durchregieren“ zu beobachten gewesen ist, das im Widerspruch zum vereinbarten „neuen Politikstil“ steht.

 

[1]              Vgl. Roth, Roland (2013): Demokratiereformen. Handlungsmöglichkeiten auf Länderebene. Skizze für die Heinrich-Böll-Stiftung (PDF).

[2]              Ebd.

[3]              Bündnis für den Norden – Neue Horizonte für Schleswig-Holstein. Koalitionsvertrag 2012–2017, Zeile 108 (PDF); Für Einzelbelege siehe nachfolgende Tabelle.

[4]              Ebd., Zeile 581.

[5]              Ebd., Zeile 872.

[6]              Mit 61 von 69 Stimmen, drei Abgeordnete fehlten, drei stimmten dagegen, zwei enthielten sich. Die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit beträgt 46 Stimmen.

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