Bessere Entscheidungen und eine höhere Identifikation: Eine Untersuchung in baden-württembergischen Kommunen bestätigt die hohen Erwartungen an beteiligungsorientierte Verfahren. Negative Erfahrungen resultieren vor allem aus deren Konflikthaftigkeit selbst.
Bürgerinnen und Bürger sollen durch "neue" Formen von Bürgerbeteiligung verstärkt an der Vorbereitung von bzw. an den politischen Entscheidungen selbst teilhaben können. Die Erwartungen von Politik und Öffentlichkeit sind dabei hoch. So soll mehr Bürgerbeteiligung beispielsweise:
- die Identifikation mit der jeweiligen Gemeinschaft stärken und beim Einzelnen Verständnis für gemeinsame Probleme in Gesellschaft und Politik entwickeln;
- die Qualität von Entscheidungsprozessen durch die Aktivierung und Einbeziehung von zusätzlichem Wissen erhöhen;
- für die Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter mehr Informationen über die Interessen der Bürgerschaft bringen, um die Planung von Vorhaben zu erleichtern;
- für die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger mehr Informationen über die Interessen in der Bevölkerung liefern und so ihre Entscheidungsgrundlage verbessern;
- die Zufriedenheit der beteiligten Bürgerinnen und Bürger mit den jeweiligen Planungsprozessen und -ergebnissen stärken und damit zu mehr Akzeptanz von Entscheidungen führen.
Ob Bürgerbeteiligungsverfahren diese Erwartungen tatsächlich erfüllen, wird selten gefragt.[1] Deshalb steht diese Frage im Fokus unserer Untersuchung im Rahmen des Demokratie-Monitorings 2013/14 der Baden-Württemberg Stiftung. Die Wirkungen von Bürgerbeteiligung werden am Beispiel von 24 dialogorientierten und direktdemokratischen Verfahren in Baden-Württemberg untersucht.[2]
Dialogorientierte Verfahren finden im Vorfeld politischer Entscheidungen statt. Sie bieten den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, ihre Interessen in Planungsprozesse einzubringen, wenngleich die Entscheidungskompetenzen bei den gewählten Vertreterinnen und Vertretern bleiben.[3] Bei direktdemokratischen Verfahren können Bürgerinnen und Bürger demgegenüber unmittelbar über Sachfragen entscheiden.[4]
Im Folgenden wird zunächst erläutert, welche Folgen von Bürgerbeteiligung in der Literatur diskutiert werden. Als Wirkungen werden dabei nachträglich wahrgenommene Veränderungen im Zusammenhang mit einzelnen Beteiligungsprozessen bezeichnet, die von Akteurinnen und Akteuren aus Politik, Verwaltung und Bürgerschaft geäußert wurden. Anschließend werden die Ergebnisse des Forschungsprojektes präsentiert und die wahrgenommenen Wirkungen dieser Verfahren verglichen.
Welche Wirkungen werden von Bürgerbeteiligung erwartet?
Bislang gibt es in der Literatur kaum systematische Konzeptionalisierungen möglicher Wirkungen von Bürgerbeteiligung.[5] Um diese besser untersuchen zu können, unterscheiden wir sie im Folgenden anhand von zwei Dimensionen: Die "Objektdimension" unterscheidet, auf wen oder was sich die jeweilige Wirkung bezieht. Dabei geht es einerseits um Wirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger sowie um Veränderungen ihrer politischen Kompetenzen, Einstellungen und Werte. Andererseits geht es um Wirkungen auf die Politik, im Besonderen um Veränderungen der Politikergebnisse (policy) oder im Verhalten der Akteurinnen und Akteure sowie um Veränderungen in den Prozessen (politics).
Die "Generalisierungsdimension" bildet demgegenüber ab, dass Wirkungen sich in ihrer Tiefe über die Zeit und über Beteiligte bzw. Nicht-Beteiligte hinweg unterscheiden. Zum einen können sich Veränderungen direkt aus einem bestimmten Verfahren heraus ergeben; sie betreffen die konkreten Ergebnisse bzw. die jeweils Teilnehmenden (verfahrensbezogene Wirkungen). Zum anderen können sich die Wirkungen aber auch von einzelnen Verfahren lösen und den Verlauf von Prozessen bzw. das Verhalten von Akteurinnen und Akteuren auf Dauer verändern, auch wenn sie nicht direkt beteiligt waren (generalisierte Wirkungen). Anhand dieser beiden Dimensionen ergeben sich vier Wirkungsfelder von Bürgerbeteiligung:
- Verfahrensbezogen auf das Politikergebnis: Die Wirkungen sind eng verbunden mit einem konkreten Verfahren. Die Veränderungen beziehen sich auf die Ergebnisse der Prozesse hinsichtlich ihrer Qualität (Effizienz, Effektivität) sowie auf die Akzeptanz der Ergebnisse in verschiedenen Akteursgruppen.
- Verfahrensbezogen auf die Bürgerinnen und Bürger: In diesem Fall geht es um Veränderungen der politischen Kompetenzen, Einstellungen und Werte derer, die im direkten Zusammenhang mit einem konkreten Projekt stehen und die in erster Linie auf die Teilnehmenden beschränkt sind.
- Generalisiert auf die Prozesse und die politischen und administrativen Akteurinnen und Akteure: Die Wirkungen sind nicht mehr an einzelne Verfahren gebunden; generelle Veränderungen in der Performanz von Politik und Verwaltung ebenso wie im Verhalten der Eliten (z. B. höhere Sensibilität und Aufgeschlossenheit gegenüber Interessen der Bürgerschaft).
- Generalisiert aufseiten der Bürgerinnen und Bürger: Diese Wirkungen sind ebenfalls losgelöst von einzelnen Prozessen und umfassen Veränderungen der "politischen Kultur" oder des "Sozialkapitals".
Wie untersuchen wir die Wirkungen von Bürgerbeteiligung?
Um mehr über die subjektive Wahrnehmung der Beteiligungswirkungen zu erfahren, haben wir in den letzten fünf Jahren 118 leitfadengestützte Interviews zu 24 direktdemokratischen und dialogorientierten Verfahren in zwölf baden-württembergischen Kommunen durchgeführt. Die Fälle unterscheiden sich in Bezug auf ihren lokalen Kontext, Themen (z. B. Soziales, Städtebau etc.), Größe (Anzahl der Beteiligten) und Art des Verfahrens (Bürgerentscheide, Dialogverfahren wie Runde Tische, Zukunftskonferenzen etc.).
Zudem unterscheiden sie sich hinsichtlich ihres Konfliktpotenzials (vgl. Abb. 1): Bei Dialogprojekten mit niedrigem Konfliktpotenzial geht es entweder um längerfristige, strategische oder soziale Themen, bei denen kaum akute Betroffenheiten vorliegen. Folglich gibt es keine Verlierer. Bei Projekten mit hohem Konfliktpotenzial kommt es in der Regel zu akuten Betroffenheiten einzelner Individuen oder Gruppen, die sich in Form von Gewinnern und Verlierern abbilden lassen. Die Themen sind häufig politisch aufladbar und führen fast zwangsläufig zu unterschiedlich intensiven Konflikten. Hohes Konfliktpotenzial ist häufig mit Infrastrukturprojekten verbunden.[6]
Abb. 1: Drei Typen von Beteiligungsprozessen und unsere Fallauswahl
Welche Wirkungen hat Bürgerbeteiligung aus Sicht der Beteiligten?
Am häufigsten nehmen unsere Interviewpartnerinnen und -partner positive Wirkungen wahr, wie beispielsweise:
"Es wurde sehr, sehr viel an Vertrauen geschaffen in diesem Prozess; sehr, sehr viele Vorurteile abgebaut (…), indem einfach deutlich wurde: Auch wir unterliegen gewissen Zwängen, als Stadtverwaltung."
Die Nennung negativer Wirkungen ist um ein Vielfaches geringer, beispielsweise:
"Es hat eine enorme Spaltung gebracht in der Bevölkerung. (…) Die Gegner und die Befürworter, die haben sich dann nicht mehr angeschaut, danach. Da sind wirklich Feindschaften entstanden."
Zudem gibt es differenzierte Aussagen, die weder eindeutig positiv noch negativ einzuordnen sind:
"Es ist ein Dokument dabei herausgekommen, was jetzt noch (…) umgesetzt werden muss. Es hat auf jeden Fall viele Stunden der Bürger verbraucht (…) plus die Kosten für die Moderation, plus die Kosten für den Prozess, plus die Verwaltungsarbeit. Von daher muss man gucken, was daraus gemacht wird. Erst dann kann man sagen, dass war erfolgreich."
Die Dominanz positiver Wirkungen wird allerdings dadurch relativiert, dass in der Summe nahezu ähnlich viele neutrale wie negative Wirkungen genannt wurden. Das Ergebnis muss zudem vorsichtig interpretiert werden: Zum einen führt das momentane Meinungsklima in Baden-Württemberg zu einem wahrnehmbaren Positiv-Bias in der Beurteilung von Bürgerbeteiligung. Zum anderen dominieren in unserer Auswahl Fälle, „die man kennt“, also in der Regel erfolgreiche Prozesse. Über misslungene Beteiligungsprozesse wird zumeist geschwiegen. Unsere Ergebnisse zeigen damit eher eine etwas optimistischere Sicht von Bürgerbeteiligung, während in der Realität die negativen Erfahrungen vermutlich stärker ausgeprägt sind, als es hier sichtbar wird.
Grundsätzlich finden wir Äußerungen zu allen vier Wirkungsfeldern. Verglichen mit allen Aussagen unserer Interviewpartnerinnen und -partner (N=1.457) handelt es sich bei den meisten um verfahrensbezogene Wirkungen, die die Ergebnisse der konkreten Prozesse betreffen. Generalisierte Wirkungen werden deutlich seltener genannt.
Bei Dialogen mit niedrigem Konfliktpotenzial ist die relative Wahrnehmung positiver Wirkungen am größten, bei Bürgerentscheiden am geringsten, obwohl auch hier die positiven Nennungen – verglichen mit den neutralen und negativen – am häufigsten sind. Umgekehrt werden negative Folgen von Beteiligungsprozessen am intensivsten bei Bürgerentscheiden wahrgenommen, während bei Dialogen mit niedrigem Konfliktpotenzial nahezu keine negativen Wirkungen wahrgenommen werden. Dialoge mit hohem Konfliktpotenzial liegen dazwischen.
Betrachtet man die Fälle getrennt nach den drei Beteiligungstypen, lassen sich positive und negative Wirkungen identifizieren, die zusammengenommen den Wirkungskorridor definieren, der nach unseren Beobachtungen bei den verschiedenen Beteiligungstypen realisiert werden kann (vgl. Abb. 2). Bei Dialogen mit niedrigem Konfliktpotenzial ist der Korridor vergleichsweise schmal: Es gibt so gut wie keine negativen Wirkungen. Gleichzeitig ist die positive Wirkungstiefe durch die geringe Mobilisierungskraft beschränkt. Bei Bürgerentscheiden kann durch die starke Polarisierung eine Kluft in der Kommune verfestigt werden.
Umgekehrt können Bürgerentscheide auch zu einer klaren Entscheidung führen und zu einer Sensibilisierung im Verhalten der administrativen und politischen Eliten. Der Wirkungskorridor ist damit deutlich größer als bei den Dialogen mit niedrigem Konfliktpotenzial. Am größten ist er bei Dialogen mit hohem Konfliktpotenzial: Sie bringen im schlechtesten Fall neben der Konfliktverstärkung nicht einmal eine klare Entscheidung. Im besten Fall erzielen sie aber Wirkungen in der Stadtgesellschaft, die deutlich über das einzelne Verfahren hinausgehen (Aufbau von gegenseitigem Vertrauen und Responsivität).
Abb. 2: Die Wirkungskorridore der verschiedenen Beteiligungsverfahren
Zusammenfassung
Momentan werden hohe Erwartungen an "neue" Beteiligungsformen geknüpft. Unsere Untersuchung zeigt, dass einige dieser Erwartungen tatsächlich erfüllt werden können. Bürgerbeteiligung erzielt Wirkungen in allen vier von uns definierten Feldern. Dominant sind verfahrensbezogene Wirkungen. Größtenteils werden positive Wirkungen wahrgenommen. Es gibt aber auch neutrale und negative Wirkungswahrnehmungen, die unter anderem mit der Konflikthaftigkeit des jeweiligen Prozesses zusammenhängen.
Die Ergebnisse legen nahe, dass die verstärkte Nutzung neuer Formen von Bürgerbeteiligung ein sinnvoller Weg ist, um die repräsentativen Demokratien zu unterstützten. Sie können sowohl auf die Ergebnisse von Entscheidungsprozessen als auch auf das Verhalten und die Einstellungen verschiedener Akteurinnen und Akteure positiv wirken. Darüber hinaus haben sie das Potenzial, längerfristige Veränderungen in einer Kommune hervorzurufen. Allerdings muss auch gesehen werden, dass Stadtgesellschaften sich in ihrer Zusammensetzung über die Jahre verändern.
Generalisierte Wirkungen von Bürgerbeteiligung (z. B. die Veränderung der politischen Kultur) sind kumulative Prozesse, die auf längerfristigen Erfahrungen beruhen. Sie benötigen entsprechende Trägerinnen und Träger dieser Erfahrungen sowie deren Weitergabe. Verändert sich die Zusammensetzung der Akteurinnen und Akteure in einer Kommune, können bisherige Beteiligungserfahrungen und -kompetenzen jedoch auch verloren gehen. Insofern stellt sich die Frage, ob künftig die Verstetigung von Beteiligungsprozessen dauerhaft unterstützt werden kann, beispielsweise durch die lokale Entwicklung und Implementierung von Leitlinien für Bürgerbeteiligung.[7]
[1] Vgl. u. a. Selle, Klaus (2013): Mitwirkung mit Wirkung? Anmerkungen zum Stand der Forschung über planungsbezogene Kommunikation und das, was von ihr bleibt, in: pnd online 2-3, S. 1–19.
[2] Die folgenden Ausführungen fassen die Ergebnisse des Projekts "Wirkungen lokaler Bürgerbeteiligung" zusammen, welches im Rahmen des Demokratie-Monitorings 2013/14 der Baden-Württemberg Stiftung durchgeführt und von dieser finanziert wurde (vgl. Vetter, Angelika / Geyer, Saskia / Eith, Ulrich (2015): Wirkungen von Bürgerbeteiligung, in: Baden-Württemberg Stiftung (Hrsg.): Demokratie-Monitoring Baden-Württemberg 2013/2014. Studien zur Demokratie und Partizipation, Wiesbaden: VS Springer). Projektverantwortlich waren Prof. Dr. Angelika Vetter von der Universität Stuttgart und Prof. Dr. Ulrich Eith von der Universität Freiburg. Das übergeordnete Forschungsprogramm "Demokratie-Monitoring" ist wiederum Teil des Gesamtprogramms "Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft" der Baden-Württemberg Stiftung, welches von den Universitäten Mannheim, Tübingen, Stuttgart und Freiburg im Auftrag der Baden-Württemberg Stiftung 2014 durchgeführt wurde.
[3] Vgl. u. a. Holtkamp, Lars / Bogumil, Jörg / Kißler, Leo (2006): Kooperative Demokratie. Das politische Potenzial von Bürgerengagement, Frankfurt am Main u. a.: Campus.
[4] Vgl. Schiller, Theo / Mittendorf, Volker (Hrsg.) (2002): Direkte Demokratie. Forschung und Perspektiven, 1. Aufl., Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
[5] Zu den wenigen Ausnahmen gehört beispielsweise: Kubicek, Herbert / Lippa, Barbara / Koop, Alexander (2011): Erfolgreich beteiligt? Nutzen und Erfolgsfaktoren internetgestützter Bürgerbeteiligung. Eine empirische Analyse von 12 Fallbeispielen, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.
[6] Die folgenden Analysen beruhen auf unseren Beobachtungen sowie auf insgesamt 1.457 Wirkungsaussagen, die in den 118 Interviews gemacht wurden. Wir interpretieren im Folgenden die Häufigkeit der wahrgenommenen Wirkungsaussagen als Orientierungsgrößen, indem wir sie in Bezug setzen zu allen Wirkungsaussagen, die einem Beteiligungstyp zugeschrieben werden.
[7] Vgl. Klages, Helmut; Vetter, Angelika (2013): Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene. Perspektiven für eine systematische und verstetigte Gestaltung, Berlin: Ed. Sigma.
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