Baden-Württemberg: Die Politik des Gehörtwerdens

Baden-Württemberg: Die Politik des Gehörtwerdens

Gehörtwerden bedeutet nicht unmittelbar Erhört-Werden: Winfried Kretschmann im Wahlkampfendspurt 2011 — Bildnachweise

Neue Beteiligungsverfahren und eine überarbeitete Verwaltungsausbildung: Grün-Rot hat den Dialog institutionalisiert und Baden-Württemberg zu einem Demokratie-Großlabor gemacht.

Die grün-rote Landesregierung Baden-Württemberg, 2011 gewählt, hat sich demokratiepolitisch ambitionierte Ziele gestellt: „Die Zeit des Durchregierens von oben ist zu Ende", steht im Koalitionsvertrag. "Gute Politik wächst von unten, echte Führungsstärke entspringt der Bereitschaft zuzuhören. Für uns ist die Einmischung der Bürgerinnen und Bürger eine Bereicherung. Wir wollen mit ihnen im Dialog regieren und eine neue Politik des Gehörtwerdens praktizieren.“

Für diese aufsehenerregende Ankündigung war nicht zuletzt ausschlaggebend, dass die grün-rote Stimmenmehrheit aus dem Protest geboren wurde. Der Konflikt um den Teilabriss und unterirdischen Ausbau des Stuttgarter Bahnhofs („Stuttgart 21“) war derart eskaliert, dass sehr viele Menschen einen politischen Wandel verlangten. Die Grünen hatten sich mit dieser Bewegung verbunden.

Die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima kurz vor der Landtagswahl entzog der Pro-Atom-Politik der Regierung Mappus vollends die Legitimation, so dass die CDU nach 58 Jahren als Regierungspartei abgewählt wurde und die erste grün-rote Regierung der Republik mit dem grünen Ministerpräsidenten Kretschmann ins Amt kam. Die Lehre aus den massiven Konflikten nahm sie ins Zentrum ihres Programms und wurde damit bundesweit zum Motor landespolitischer Aktivitäten im Bereich der Demokratiereformen.[1]

Baden-Württemberg ist das erste Bundesland, das eine „umfassende, programmatisch begründete, deliberative Initiative zur Vertiefung repräsentativer Demokratie“ auf den Weg bringt.[2] Die Landesregierung institutionalisiert Dialog und Beteiligungsinitiativen als ein landespolitisches Governance-Prinzip.

Nach der Landesverfassung (Art.45.2) kann der Ministerpräsident eine ehrenamtliche Staatsrätin/Staatsrat zu einem Bereich seiner Wahl einsetzen. Kretschmann wählte „Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft“ und übertrug das Amt Gisela Anna Erler. Die Staatsrätin hat seitdem mit großem Elan und einem kleinen Team vorhandene Aktivitäten gebündelt, Innovationen in Verwaltung und Zivilgesellschaft angestoßen, Know-how-Austausch auch international organisiert sowie bereits zu evaluieren begonnen. Erklärtes Ziel ist, Regelungen und Akteursstrukturen zu schaffen, um eine gute Beteiligungskultur „in der DNA des Landes zu verankern“ - auch unabhängig von grüner Regierungsbeteiligung. Die Umsetzung in der Landespolitik lebt davon, dass der Regierungschef und ein relevanter Teil der Minister/innen das Anliegen tragen.

Die Entscheidung bleibt bei den Behörden

Der liberale Südwesten hat historisch eine lange Tradition tätiger Bürgerschaftlichkeit, die nicht zuletzt eine der Grundlagen der soliden mittelständischen Ökonomie bildet. Baden-Württemberg hat öffentliches und in Unternehmensstiftungen angelegtes Geld, keine pleiten Kommunen, gut entwickelte ländliche Regionen und der Großraum Stuttgart ist neben München bundesweit wichtigstes Zuwanderungsgebiet. Das politische Klima ist „von vielfältigen Traditionen des Vereinswesens bis zur politischen Selbstorganisation geprägt (..) und an vielen Orten (...) (ist) Bürgerbeteiligung bereits ein fester Bestandteil der Stadt- und Kommunalpolitik“ (Helga Metzner).

Aufbauend hierauf holt die Staatsrätin Beratung ein und unterstützt die Vernetzung von Akteur/innen in Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft auch mit Praxisbeispielen aus den europäischen Nachbarländern. So wird und wurde auf Tagungen vorhandenes Wissen zu beteiligungsorientierter Politik für die baden-württembergische Situation befragt und ein Netzwerk organisiert, das perspektivisch Evaluation und Monitoring trug bzw. trägt.[3]

Um zukünftig bei Großvorhaben mehr Bürgerbeteiligung zu ermöglichen, wurde im Koalitionsvertrag vereinbart, einen „Leitfaden für eine neue Planungs- und Beteiligungskultur“ zu erarbeiten. In zahlreichen Beratungen mit ExpertInnen, BürgerInnen und Verwaltung wurde schließlich die „Verwaltungsvorschrift zur Intensivierung der Öffentlichkeitsbeteiligung in Planungs- und Zulassungsverfahren“ erarbeitet, die die Behörden verbindlich auf frühe, prozessuale und transparente Bürgerbeteiligung und proaktives Einholen von Bürger/innenmeinung auch jenseits der unmittelbar Betroffenen verpflichtet. Bestehende Regelungen wurden zusammengeführt und u.a. um die öffentliche Berichtspflicht ergänzt, wo Ergebnisse aus der Öffentlichkeitsbeteiligung nicht aufgenommen werden. Diese Verwaltungsvorschrift ist bundesweit eine Premiere.

Begleitet wird die Verwaltungsvorschrift durch einen „Leitfaden für eine neue Planungskultur“ im Sinne einer Handlungsanweisung und Empfehlung, wie die Verwaltungsvorschrift angewandt werden kann. Er will handwerkliches Wissen vermitteln. Vorschrift und Leitfaden sollen zur Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie beitragen und erklären, dass Bürgerbeteiligung zwar die Entscheidungen mit beeinflusst, das aber die Entscheidung letztlich bei den Behörden verbleibt, eben weil „Protestkultur, Institutionen und Rechtsnormen (...) in einem produktiven Spannungsverhältnis“ zueinander stehen.[4]

"Leuchttürme der Bürgerbeteiligung"

Spannenderweise kam aus der Wirtschaft der Impuls, für die Planung großer Vorhaben ebenfalls eine eigene Richtlinien zu entwickeln. Der VDI bekannte sich mit seinen Richtlinien zur Bürgerbeteiligung offiziell dazu, frühe Bürgerbeteiligung bei seinen Projekten durchzuführen einschließlich der Option, Vorhaben bei großem Widerstand nicht durchzuführen, ganz im Sinne des Planungsleitfadens und der Verwaltungsvorschrift.[5] In einer „Stuttgarter Erklärung“ bekannte sich eine Reihe von Kammern und Verbänden aus der baden-württembergischen Bauwirtschaft dazu, diese Prinzipien anzuwenden.

Die Verwaltungsvorschrift wurde – wie seitdem zahlreiche andere Gesetzesvorhaben – online zur öffentlichen Beratung bereitgestellt. Hierfür wurde das Online-Beteiligungsportal der Landesregierung ausgebaut, das Gesetzestexte vorstellt und Kommentierung erlaubt. Analog zu Verbandsanhörungen reagiert die Regierung zusammenfassend auf die Kommentare.[6] Online und offline öffentlich beraten wurde auch über das neue Hochschulgesetz und die Wiedereinführung der verfassten Studierendenschaft. Bei der Neuausrichtung der Landesentwicklungspolitik, dem Filder-Dialog, der Ausarbeitung des "Integrierten Energie- und Klimaschutzkonzepts“, bei Gesundheitsdialog, Verkehrswegeplan u.a. wurden Vorhaben aus Parlament und Ministerien der Öffentlichkeit zur Beratung angetragen. Die Gestaltung der Energiewende soll in starkem Maß in „Bürgerhand“ und öffentlich diskutiert erfolgreich werden (Elisabeth Kiderlen).

Baden-Württembergs Regierung hat auch die Aus- und Weiterbildung der Verwaltung weiterentwickelt. Weil absehbar ist, dass es künftig zum Berufsbild von Bürgermeister/innen und Amtsleiter/innen gehört, mit Kontroversen konfrontiert zu sein und Beteiligung zu organisieren, wird Fortbildung angeboten, wie die eigenen Aufgaben dialogisch zu begreifen und Konfliktpotentiale proaktiv zu thematisieren sind. Parallel wurden die Lehrpläne der Verwaltungsausbildung überarbeitet und ein Masterstudiengang „Beteiligung“ für die Fachhochschulen für Verwaltung eingerichtet.

Regierung und Städtetag ermutigten Städte und Kommunen, mit Dialogverfahren zu experimentieren und Eigeninitiativen von Bürger/innen zu fördern. Hierfür wurde 2012 und 2013 der Wettbewerb „Leuchttürme der Bürgerbeteiligung“ ausgelobt.[7] Bundesweite Beachtung fand eine Auseinandersetzung um ein Pumpspeicherkraftwerk im südlichen Schwarzwald. Hier wurde ein moderiertes Rundtischverfahren zwischen Betreibern, lokalen und Landesbehörden, NGOs und Anwohner/innen aufgesetzt, das schließlich in einem gemeinsamen Bericht Handlungsempfehlungen vorlegte.[8]

Die leisen Stimmen sollen gehört werden

Konflikte blieben nicht aus: Besonders hart umkämpft war etwa das Projekt Nationalpark Schwarzwald. Hier verhärteten sich die Fronten. Ein anderes Konfliktbeispiel ist die Suche nach einem Standort für einen Gefängnisneubau: Der favorisierte Standort in der Gemeinde Tuningen konnte nicht gewählt werden, da sich die Bürgerschaft in einem Bürgerentscheid gegen die Ansiedlung einer Justizvollzugsanstalt ausgesprochen hatte. Das Land hatte im Vorfeld zugesagt, den Bürgerentscheid zu respektieren. Positiv an dem Fall war, dass Land und Kommune einen moderierten Diskussionsprozess organisierten und die Abstimmungsdebatte ohne größere Konflikte ablief.

Für die vielen im Land Engagierten will Grün-Rot die Voraussetzungen verbessern: Engagement und Partizipation sollen besser verknüpft und Engagement sozialräumlich eingebunden werden, auch um mit den nicht-klassisch Engagierten und leisen Stimmen in Kontakt zu kommen. Strategisches Ziel ist hier, die Befähigung für Engagement zu fördern und eine „sozial lebendige und solidarische Bürgergesellschaft zu stärken, in der sich jede/r engagieren kann“ (Hannes Wezel). Für die Entwicklung ihrer Engagementstrategie hat das Sozialminsterium einen partizipativen Prozess aufgesetzt. Gemeinsam mit Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Ministerien wurden Handlungsempfehlungen formuliert, die sich an Land, Kommunen, Verbände, Unternehmen und Bürgerschaft richten. Das Kabinett hat das Maßnahmenbündel 2014 beschlossen, die Initiative wird durch die Kampagne „Gemeinsam sind wir bunt“ beworben.[9]

Die Landesregierung betont wiederholt, dass neben den „üblichen Verdächtigen“ (Erler) auch die Menschen mit den leiseren Stimmen gehört und beteiligt werden sollen: mit innovativen Verfahren wie dem Losen von Zufallsbürger/innen, der Organisation von Beratungsrunden für nichtorganisierte Stakeholder/innen und mit aufsuchender Beteiligung. Die nichtstaatliche „Allianz für Beteiligung“ bildet eine aktiv stützende Infrastruktur. Ein neues Programm setzt darauf, mit den Leuten dort ins Gespräch zu kommen, wo sie sich „gesellen“ - wie in Nachbarschafts- und Familienzentren und Mehrgenerationenhäuser - statt zu hoffen, dass sie auf Einladungen reagieren und zu einer politischen Veranstaltung kommen. Eine Ausschreibung für die Fortentwicklung solcher Orte zu „Orten für Beteiligung“ wird durch die Breuninger-Stiftung finanziert.

Unterschiedliche Wahrnehmungen

Weitere Vorhaben der Landesregierung zur Stärkung der Beteiligungskultur sind Gesetze zur Informationsfreiheit (IFG), zu Teilhabe und Integration von Migrant/innen sowie die Förderung der Jugendbeteiligung. Mit dem IFG will Grün-Rot den Grundsatz einer proaktiven Informationspolitik von Ministerien, Behörden des Landes und Kommunen festschreiben. Hohe Zuwanderung ist längst als Standortfaktor erkannt, allerdings ist die kulturelle Vielfalt auf Landesebene noch nicht institutionell in die Administration eingebunden. Das soll das Teilhabe- und Integrationsgesetz ändern.

Im Februar 2015 legte nun das Kabinett seinen Gesetzentwurf zur Änderung der Kommunalverfassungen vor, um – wie im Koalitionsvertrag vereinbart - mehr direktdemokratische Einflussnahme zu ermöglichen. Die Vorschläge - Absenkung des Quorums auf ein Fünftel der Wahlberechtigten sowie die Öffnung der Bauleitplanung für Bürgerentscheide - erregen auch koalitionsintern Protest.[10] Verwiesen wird u.a. auf die Mannheimer Erfahrung, wo im Vorfeld der Bundesgartenschau ein sehr knapp ausgehender Bürgerentscheid die Stadtgesellschaft spaltete.[11]

Eine erste Auswertung der beteiligungskulturellen Innovationen wurde bereits durchgeführt. In Kooperation mit Universitäten und der landeseigenen Baden-Württemberg Stiftung wurde nach Effekten einer beteiligungsorientierten Politik gefragt. In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wurde evaluiert, „welche Innovationen das repräsentative System beleben“.[12] Dabei stellte sich heraus, dass die Wahrnehmung von politischer Gestaltung und Kommunikation deutlich auseinander tritt: Während Amtsinhaber/innen zum Schluss kommen, mit der Bevölkerung im guten Gespräch zu stehen, beklagen Bürger/innen, die Politik kommuniziere wenig und kenne ihre Bedürfnisse nicht. Baden-Württemberg will nun ein regelmäßiges landesweites Demokratie-Monitoring etablieren.

Im Demokratie-Großlabor Baden-Württemberg treten Konflikte lehrbuchartig hervor: Deliberation produziert Reibung mit den Organisations- und Handlungslogiken der Parteiendemokratie. So hat die CDU dem Nationalpark Schwarzwald ihre Unterstützung in dem Moment entzogen, als sie darüber Profilierungsmöglichkeit gegenüber der Regierung sah. Medien berichten eher von Konflikten als von mühseligen und differenzierten Aushandlungsprozessen.

Die Regierung steht für eine dialogorientierte Erweiterung der repräsentativen Demokratie, nicht für ihren Ersatz durch Direktdemokratie. Die Rolle von Mandat, Parlament und Regierungsamt betont Kretschmann, wenn er sagt, dass das Gehörtwerden nicht auch unmittelbar das Erhört-Werden bedeuten kann. Spannend bleibt, welche Kontinuität die baden-württembergische Demokratiepolitik auch über die aktuelle Legislaturperiode hinaus etablieren kann.

 

[1]               Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung (Elisabeth Kiderlen, Helga Metzner): Experiment Bürgerbeteiligung. Das Beispiel Baden-Württemberg. Schriften zur Demokratie Bd. 32, Berlin 2013.

[2]               Roland Roth, Potentiale und Entwicklungstendenzen deliberativer Partizipation, in: Bertelsmann Stiftung und Staatsministerium Baden-Württemberg (Hrsg.): Partizipation im Wandel. 2014: 233

[3]               Fachtagungen im Staatsministerium organisiert durch Prof. Patrizia Nanz, mit europ. „Beteiligungsregionen“ Vorarlberg/ Schweiz/ Barcelona/ London/ Italien; Fachtagungen in Bad Boll mit Wissenschaft/ Prfs. Gabriel, Vetter, Geißel, Roth, van Deth ua., darunter die Tagung 12.2.2014 „Bis hier her und wie weiter? Eine Zwischenbilanz zur Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg“.

[4]               Gisela A.Erler, Vorwort; in: Leitfaden für eine neue Planungskultur. Hg. Staatsministerium Baden-Württemberg, 1.3.2014.

[6]               Vgl. zu den Erfahrungen Niombo Lomba bei der Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung „Repräsentation trifft Beteiligung“; vgl. auch die Kritik von Robert Müller-Török.              

[7]             Über einige Resultate informiert die die interaktive „Beteiligungskarte“.

[8]             Das Dialogverfahren wurde begleitend evaluiert (PDF).

[9]             Danke für die Auskünfte an Hannes Wezel. Eine ausführliche Darstellung ist auch nachzulesen im BBE-Newsletter 16/2014.

[10]             FAZ vom 17.Februar 2015: “Bürgerentscheide zerstören soziales Kapital“.

[11]             Vgl. dazu Forum 2 bei der Tagung „StadtBeteiligt!“ (PDF), S.26f.

[12] Bertelsmann-Stiftung, Staatsministerium Baden-Württemberg (Hg): Partizipation im Wandel. Unsere Demokatie zwischen Wählen, mitmachen und Entscheiden. Gütersloh 2014, S.8

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