Vor welchen Aufgaben steht die elektronisch gestützte Bürgerbeteiligung?

Vor welchen Aufgaben steht die elektronisch gestützte Bürgerbeteiligung?

Was passiert, wenn in einem Diskussionsforum auf einmal 5.000 Posts stehen? — Bildnachweise

Bevor elektronische Partizipation tatsächlich gelingen kann, müssen fünf Fragen geklärt werden. Zum Beispiel, ob massenhafte Beteiligung bisher überhaupt angemessen bewältigt werden kann.

Liest man die Aussendungen von Ländern, Kommunen und Parteien, lässt sich der Eindruck gewinnen, die Bürgerbeteiligung wäre etabliert und in der deutschen Politik angekommen: Hunderte erfolgreiche Bürgerhaushalte, nutzenstiftende Bürgerdialoge, von den Bürgerinnen und Bürgern häufig frequentierte Beteiligungsportale – alles überhaupt kein Problem, alles erfolgreich, alles hervorragende Projekte. Die messbare Realität sieht jedoch anders aus: In den Beteiligungsportalen der Bundesländer werden die Gesetze bestenfalls von einer Handvoll Bürgerinnen und Bürgern kommentiert;[1]Bürgerdialoge über aktuelle Themen aktivieren kaum ein Zehntel Promille der Bevölkerung;[2] und Bürgerhaushalte werden von den Kommunen mangels Beteiligung konsequenter­weise aufgegeben.[3]

Natürlich ist quantitative Beteiligung nicht das alleinige Kriterium für den Erfolg einer Bürgerbeteiligung – dennoch ist es, um in der mathematischen Sprache zu bleiben, notwendig, wenn auch nicht hinreichend. Eine „Bürgerbeteiligung“, an der nicht eine repräsentative bzw. signifikante Zahl der Bürgerinnen und Bürger teilnimmt, kann nur schwer politische Legitimität geltend machen.[4]

Erste Aufgabe: Wer sind die Bürgerinnen und Bürger, und wie identifiziere ich sie?

Beim Namen fängt es schon an: „Bürgerbeteiligung“ impliziert, dass sich Bürgerinnen und Bürger beteiligen sollen, also Menschen mit Bürgerrechten. Einer meiner Lieblingssprüche ist: „Machen wir doch in Stuttgart eine Bürgerbeteiligung zum neuen Bahnhof.“ Der erste, der nicht mitmachen darf, ist der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, weil er seinen Hauptwohnsitz in Sigmaringen hat und deshalb – gemäß §12 der baden-württembergischen Gemeindeordnung[5] – kein Bürger von Stuttgart ist.

Das „Bürger“ ist also eigentlich falsch. Vermutlich geht es eher um „Einwohner“. Und bei einem Bahnhof wohl auch um Pendler oder Touristinnen. Möglicherweise auch um juristische Personen – eine Bürgerbeteiligung in Gütersloh ohne Bertelsmann oder in Wolfsburg ohne Volkswagen erscheint undenkbar. Am Anfang einer „Bürgerbeteiligung“ muss also erst einmal definiert werden, welche Personengruppe sich eigentlich beteiligen soll. Sofern diese Eingrenzung gelingt, ergibt sich das nächste Problem: Wie kann der Organisator einer Online-Beteiligung sicherstellen, dass es sich bei den Teilnehmenden auch um die entsprechende Personengruppe handelt? In München wird bei Bürgerversammlungen am Einlass anhand eines Identitätsdokumentes überprüft, ob es sich um Bürger oder Nicht-Bürger handelt; nur Bürgerinnen und Bürger erhalten eine Stimmkarte. Nicht-Bürgern wird erst auf Beschluss der Bürgerversammlung das Wort erteilt.[6]

Wie überprüft man aber die Identität im Internet? Zwar bestehen dafür verschiedene Möglichkeiten, aber je höher die Identifikationslatte gelegt wird, desto mehr „Bürger“ werden de facto von der Beteiligung ausgeschlossen. Kaum jemand verfügt beispielsweise über die eID-Funktion des neuen Personalausweises, eine österreichische Bürgerkarte, ein ELSTER-Zertifikat oder sonst einen sicheren Nachweis der elektronischen Identität. Natürlich gibt es andere Formen, wie User-ID und Passwort, aber die Administration, gerade für Kommunen mit mehr als einer Handvoll Einwohnerinnen und Einwohner, ist auch eine Kostenfrage.

Die Notwendigkeit einer Identitätsprüfung ergibt sich – neben der Legitimität – aus einem weiteren Phänomen, welches seit vielen Jahren bekannt ist: Astroturfing.[7] Hierbei handelt es sich um von Dritten bezahlte Personen, die zum Beispiel in Online-Bürgerforen im Interesse des Auftraggebers tätig sind.[8] Das ist auch absolut nachvollziehbar: Warum sollten sich bei einer „Bürgerbeteiligung“ zu einem Kraftwerksbau nicht Energiewirtschaft und professionelle NGOs Unterstützung einkaufen?

Zweite Aufgabe: Was bedeutet „Beteiligung“ und was ist sie wert?

Bedeutet Beteiligung „Entscheiden“, oder bedeutet sie: „Herzlichen Dank für Ihren wertvollen Beitrag. Unsere Experten und Expertinnen werden sich darum kümmern?“ In welchen Fällen ist eine Beteiligung rechtlich überhaupt zulässig? Sicherlich wäre fast jeder dagegen, dass zu seinem Einkommenssteuerbescheid eine Bürgerbeteiligung mit öffentlicher Diskussion seines Einkommens und Festsetzung seiner Steuerschuld stattfindet. Vier Stufen der Beteiligung lassen sich unterscheiden,[9] von denen die ersten zwei Stufen regelmäßig zu Unrecht vernachlässigt werden:

  1. Information durch die Verwaltung bzw. Politik: Hier geht es darum, die Bevölkerung transparent darüber zu informieren, was in der Kommune geschieht. Dazu gehört zum Beispiel ein via Internet einsehbares Verzeichnis sämtlicher Bauvorhaben,[10] das mit geringem Aufwand – politischen Willen vorausgesetzt – auch in Deutschland problemlos realisierbar wäre.
  2. Abfrage von Information durch die Verwaltung bzw. Politik: Darunter versteht man, dass die Bevölkerung um Information gefragt wird, um die Planungs- und Politikdatenbasis zu verbessern. Dazu gehören Bedarfsabfragen, um beispielsweise Kindergärten oder Schwimmbäder zu dimensionieren. Auch hier besteht das Problem der Identifikation der Teilnehmenden, denn auch hier könnten Lobbyisten das Ergebnis verfälschen wollen.
  3. Dialoge ohne Entscheidung durch die Beteiligten: Hier findet, im Gegensatz zu den eindimensionalen Verfahren unter 1. und 2., ein Dialog statt, wobei sich Politik und Verwaltung die Entscheidung vorbehalten bzw. aus rechtlichen Gründen vorbehalten müssen. Diese Dialoge erfordern von den Veranstaltenden von Beginn an höchste Transparenz und Glaubwürdigkeit, da sich die Bevölkerung kaum engagieren wird, wenn die Wirkung der eigenen Beteiligung nicht von Anfang an klar ist.
  4. Dialoge mit abschließender Entscheidung durch die Beteiligten: Das berühmte Beispiel des „Bud-Spencer-Tunnels“ von Schwäbisch-Gmünd ist bundesweit bekannt.[11]

In München wird gerade die zweite S-Bahn-Stammstrecke geplant. Um sich zu informieren hat man die Wahl zwischen den Webseiten der S-Bahn München oder der Deutschen Bahn AG, wo das Projekt jeweils in leuchtenden Farben dargestellt wird, und den eher ablehnenden Webseiten der Gegnerinnen und Gegner. Eine offizielle Seite des Regierungspräsidiums oder der Stadt München, auf der die eingereichten Pläne, der geplante Streckenverlauf und die Gutachten zu sehen wären, existiert nicht.

Bürgerbeteiligung muss also nicht zwingend ein Dialog sein, an dessen Ende eine Abstimmung steht. Manchmal reicht es bereits, Informationen bereitzustellen. Ein wesentlicher Mehrwert des Schlichtungsverfahrens zu „Stuttgart 21“ war, dass auf der Webseite des Schlichters Informationen bereitgestellt wurden.[12]Die beteiligten Verwaltungsbehörden und politischen Instanzen hatten dies zuvor nicht bewerkstelligen können.

In jedem Fall erfordert die Beteiligung ab der Stufe 2 (Informationsabfrage) die Identifikation der Teilnehmenden – unter den bekannten Schwierigkeiten – sowie eine Mindestbeteiligung, um eine gewisse Legitimität zu erzielen. Diese Beteiligung lässt sich jedoch nur erreichen, wenn den Teilnehmenden klar ist, welchen Wert ihre Beteiligung hat. Das Instrument hierzu ist eine sogenannte Beteiligungscharta (englisch Participation Charter), in der klar und vor allem ex-ante definiert ist, was die „Spielregeln“ des Beteiligungsverfahrens sind[13]. Ohne derartige Regeln wird die Beteiligung stets gering und stochastisch bleiben.

Dritte Aufgabe: Ein spannendes Thema finden

Es gibt Themen, die interessieren, und es gibt Themen, die interessieren nicht. Gesetzliche Regelungen oder Verwaltungsentscheidungen zur Bienenzucht werden naturgemäß nur von einem vergleichsweise geringen Teil der Bevölkerung als spannend empfunden. Die Aufgabe besteht darin, ein Thema zu finden, welches:

  1. spannend genug ist, um hinreichend zu mobilisieren;
  2. zugleich nicht polarisiert und nicht Extremismus fördert.
Vierte Aufgabe: Software für Massenbeteiligung

Während das Problem der Bürgerbeteiligung bisher eher die zu geringe Teilnahme ist, wäre eine sehr große Beteiligung ein noch viel größeres Problem. Was würde passieren, wenn in einem Diskussionsforum auf einmal 5.000 Posts stehen? Gegenwärtig existiert auf dem Markt keine Software, die feststellen kann, dass Posting 147, Posting 738 und Posting 3.427 identisch sind und zusammengefasst werden können. Was macht man also mit hunderttausend Postings? Allein diese zu lesen, würde bei je zehn Sekunden Lesezeitschätzungsweise 278 Stunden dauern. Ein solches „Dialogforum“ würde nicht lange bestehen oder sich in völlig unstrukturierte Subforen aufspalten. Dass es dabei unmöglich ist, die „Meinung des Volkes“ in irgendeiner Form herauszulesen, ergibt sich von selbst. Es ist eine Aufgabe der Wissenschaft, hier geeignete Tools zu entwickeln. Ohne diese ist eine Massenbeteiligung nicht zu bewältigen.

Fünfte Aufgabe: Einen Rechtsrahmen schaffen

Wie verträgt sich Bürgerbeteiligung mit unserem Rechtssystem? Ein paar absurd anmutende Fragen sollen dazu dienen, den fundamentalen Widerspruch zwischen unserem Rechtssystem und der vorhandenen Technologie aufzuzeigen:

  • Wenn Sie irgendeine Facebook-Gruppe gründen, kommen Sie auf den Gedanken, diese als Verein im Vereinsregister anzumelden und eintragen zu lassen?
  • Wenn Sie eine Videokonferenz oder einen Flashmob organisieren, würden Sie das als Demonstration anmelden?
  • Wenn Sie über irgendeinen Politiker oder eine Politikerin irgendwelche Unfreundlichkeiten bloggen oder eine Internetseite gründen: Gegen-den-verbrecherischen-Bezirksausschuss-xy.com, und diese dann irgendwo auf einem Server in Transnistrien[14] betreiben – welche Möglichkeiten haben die so Geschmähten dann, sich rechtlich zu wehren?

Bürgerbeteiligung ist in vergleichsweise wenigen Rechtsordnungen bzw. Teilen von Rechtsordnungen implementiert. Ein Informationsportal, das höchste Transparenz über Bauvorhaben bietet (wie zum Beispiel die Stadt Poole, Fußnote 10) wäre mit einer normalen deutschen Bauordnung und dem deutschen Datenschutzgesetz höchstwahrscheinlich unvereinbar.        

Zur Illustration ein Beispiel aus der baden-württembergischen Praxis: Im kleinen Kreis hat die Hochschule Ludwigsburg in einer Stadt in Baden-Württemberg (Kategorie: 50.000 bis 100.000 Einwohner) gemeinsam mit der Verwaltung eine Bürgerbeteiligung zur Nachnutzung eines Fabrikgeländes konzipiert. Dabei kam der Gedanke auf, alle Einwohnerinnen und Einwohner im Umkreis von zwei Kilometern anzuschreiben, woraufhin sich die Frage stellte, ob wir die Daten des Meldewesen dafür überhaupt verwenden dürften. Eine schriftliche Anfrage an den Landesdatenschutzbeauftragten ergab sinngemäß die Antwort: „Ich glaube schon, aber ich kann nicht garantieren, was herauskommt, wenn sich einer beschwert und das dann beim Bundesverwaltungsgericht landet.“ Das ist der Rechtsrahmen, in dem sich Bürgerbeteiligung heute bewegt.

Kritische Erfolgsfaktoren von Bürgerbeteiligung

Auf Basis des bisher Dargelegten ergeben sich folgende kritische Erfolgsfaktoren, damit elektronische Bürgerbeteiligung gelingen kann:

  • Geklärtes juristisches Umfeld und belastbarer Rechtsrahmen;
  • Definition der zu Beteiligenden;
  • Identifikation der zu Beteiligenden im elektronischen Verfahren;
  • Aufstellung klarer Ex-ante-Regeln (einer Charta);
  • Findung eines attraktiven Themas;
  • Vorhandensein angemessener Tools, welche die Menge der zu Beteiligenden bewältigen können.

Ein professionelles Projektmanagement oder die entsprechende technische, stabile Infrastruktur sollten selbstverständlich sein. Es bleibt zu hoffen, dass wir diese Aufgaben lösen und künftig funktionierende e-Beteiligungsprojekte sehen.

 

[1] Vgl. u. a.: http://beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de/de/informieren/bilanz-1-jahr-beteiligungsportal/ (13.12.2014), wo das Umweltverwaltungsgesetz auf 17 Kommentare kam oder das Polizeistrukturreformgesetz auf 21 Kommentare; das neue Landesmediengesetz wurde kein einziges Mal kommentiert.

[2] Vgl. http://www.bmbf.de/de/15609.php – „rund 9.500 Beiträge im Online-Dialog“ entsprächen selbst dann keinem Zehntel Promille der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, wenn niemand zwei oder mehr Beiträge verfasst hätte.

[3] Vgl. „Aus für den Bürgerhaushalt“, Frankfurter Rundschau, 23. April 2013. Frankfurt/Main hat aus einer Beteiligung von knapp drei Promille die Konsequenzen gezogen und den Bürgerhaushalt eingestellt.

[4] Am gleichen Problem laboriert auch die indirekte Demokratie: Bei der letzten Wahl des Oberbürgermeisters in Heidelberg im Oktober 2014 wurde eine Wahlbeteiligung von ca. 22 Prozent registriert; http://www.rnz.de/heidelberg/00_20141021060000_110770883-OB-Wahl-Heidelberg-82-Prozent-haben-nichts-geg.html#ad-image-0; (14.12.2014).

[5] Dies erfordert einen Hauptwohnsitz und eine EU-Staatsangehörigkeit. Somit wären beispielsweise auch Serben, US-Amerikanerinnen oder Schweizer keine Bürgerinnen und Bürger im Sinne des legis citatae.

[7] Für eine Einführung siehe Irmisch, Anna (2011): Astroturf – Eine neue Lobbyingstrategie in Deutschland?, Heidelberg: Springer VS.

[8] Ein durchaus reelles Phänomen; vgl. bspw. „The need to protect the internet from ›astroturfing‹ grows more urgent“; http://www.theguardian.com/environment/georgemonbiot/2011/feb/23/need-to-protect-internet-from-astroturfing (14.12.2014).

[9] Vgl. Schenk, Birgit / Müller-Török, Robert (2012): Unterlagen Masterstudium Master of Public Management, Modul Bürgerbeteiligung, Ludwigsburg.

[10] Die englische Gemeinde Poole betreibt seit Jahren ein öffentliches Verzeichnis sämtlicher Bauvorhaben, seien sie öffentlich oder privat, samt eingescanntem Schriftverkehr, Plänen etc. Vgl.: http://www.poole.gov.uk/planning-and-buildings/planning/planning-applications/planning-applications-and-decisions/ (14.12.2014).

[13] Vgl. bspw. die Charter for Parent Participation in Services for Children and Families in Cardiff; http://formerly.cardiff.gov.uk/objview.asp?Object_ID=16707& (14.12.2014).

[14] Transnistrien ist ein von Moldawien abgespaltenes Gebiet zwischen Moldawien, der Ukraine und Rumänien, welches von keinem einzigen Staat der Welt anerkannt wird. Die Durchsetzbarkeit von einstweiligen Verfügungen oder Gerichtsurteilen aus anderen Staaten ist nicht gegeben.

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