Hessen: Auf der Suche nach der neuen Beteiligungskultur

Hessen: Auf der Suche nach der neuen Beteiligungskultur

Landtagswahlkampf im Jahr 2013: Der beteiligungspolitische Wechsel in Hessen lässt noch auf sich warten — Bildnachweise

Für eine „Politik des Miteinanders“ fehlen in Hessen konkrete Umsetzungsvorschläge - ebenso wie eine realistische Bestandsaufnahme vom Zustand unserer Demokratie.

Dass Gründung und Entwicklung der Grünen eng verknüpft sind mit Selbstorganisation von Bürgerinnen und Bürgern in Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, und dass die neue Partei sich in ihrer Gründungsphase vor allem als Sprachrohr und “parlamentarischer Arm” eines breiten Umfelds solcher politischer Initiativen begriff, gilt für Hessen fast noch mehr als für andere Bundesländer. So war der frühe landespolitische Erfolg der Partei 1982 eng verbunden mit der Protestbewegung gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens sowie die Planungen für eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage, bei der auch hessische Standorte im Gespräch waren. Selbst die frühe Durchsetzung rot-grüner Regierungsbündnisse hatte einen engen Bezug zum politischen Umfeld außerhalb der Partei: Für die Durchsetzung grüner Machtbeteiligung – insbesondere auf der Landesebene zwischen 1983 und 1985 – hat der politische Druck von Bürgerinitiativen bis hin zur autonomen Frauenbewegung eine wichtige Rolle gespielt.

Demokratiepolitik bei den Landesgrünen heute

Vor dem Hintergrund dieser Geschichte verwundert es ein wenig, dass Themen wie Demokratie und Bürgerbeteiligung bei den hessischen Grünen gegenwärtig nur einen bescheidenen Stellenwert einnehmen – jedenfalls auf der Landesebene. Denn nimmt man das Wahlprogramm zur Landtagswahl 2013 zum Maßstab, so werden Fragen wie Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in die repräsentative Demokratie, Bürgerbeteiligung sowie der Ausbau von Beteiligungsrechten zwar an verschiedenen Stellen angesprochen; oft begnügt sich die Partei jedoch mit floskelhaften und allgemein gehaltenen Wendungen und Ankündigungen. Manches klingt eher nach einer rhetorischen Pflichtübung.

Zwar wird schon in der Präambel die – rhetorisch gemeinte – Frage aufgeworfen, ob sich die Bürgerinnen und Bürger unter Schwarz-Gelb “an Entscheidungen beteiligt und gut regiert” fühlten, und “mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung” als eines von vier grünen Essentials genannt.[1] Zudem stünden die Grünen für eine Politik des “Miteinanders, in der sich Bürgerinnen und Bürger mit der Politik auf Augenhöhe treffen und der Staat offen mit Informationen umgeht”.[2] Die Umsetzung dieses Anspruchs in den einzelnen Programmteilen hält sich aber in Grenzen.

Immerhin wollen die Grünen bei der Energiewende “aus Betroffenen Beteiligte machen”. Durch neue Beteiligungsformen und frühzeitigen Dialog mit Projektentwicklern von Energie- und Infrastrukturvorhaben vor Ort soll die Akzeptanz der Energiewende gestärkt und die Bürgerschaft zu einem aktiven Mitträger gemacht werden.[3] Kann man sich hier noch ungefähr vorstellen, was damit gemeint sein soll, so begnügt sich das Folgekapitel zum ländlichen Raum mit der Floskel einer nötigen “echten Beteiligung” der Bürgerinnen und Bürger an der künftigen Entwicklung der ausgedünnten Regionen des Landes.[4] Unter dem Stichwort “Demokratische Schule – Schule der Demokratie” wird die “Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern, Eltern, Lehrerinnen und Lehrern sowie der Schulträger unter Einbeziehung des regionalen Umfeldes” in die schulischen Entscheidungsprozesse gefordert. Was genau aber anders gemacht und wer über was und wie mitbestimmen soll, wird nicht gesagt.[5] Klingt alles gut, bleibt aber sehr vage.

Beachtliche Vorschläge, verkürzte Urteile

Im Kapitel “Innen und Recht” wird das Ziel einer “Politik des Miteinanders” zwischen Bürgerinnen und Bürgern sowie der Politik prominent herausgestellt und der Anspruch formuliert, “durch mehr Bürgerbeteiligung, transparente Informationen und nachvollziehbare Entscheidungen” verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.[6] Dieses Vertrauen sei bei der schwarz-gelben Vorgängerregierung, bei der ein “Dialog mit den Bürgern nicht stattfindet” verlorengegangen. Das werde man ändern: “Die Zeit des Durchregierens und der Politik von oben ist zu Ende. Wir geben allen die Möglichkeit, sich frühzeitig zu beteiligen. Wir stehen für eine neue politische Kultur und werden im Dialog regieren”.[7] Das klingt, als stünde Hessen mit einer grünen Regierungsbeteiligung vor einer Revolution der politischen Kultur.

Die Umsetzung dieses hohen Anspruchs fällt aber bescheiden aus: Die verlangten konkreten Schritte der “Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch mehr Elemente der direkten Demokratie” beschränken sich auf die Absenkung der Quoren für Volksbegehren und Volksentscheide auf Landesebene von heute zwei bzw. zwanzig Prozent der Wahlberechtigten auf ein bzw. zehn Prozent. Das passive Wahlalter soll im Rahmen der anstehenden Reform der Landesverfassung auf 18 Jahre abgesenkt werden. Gleichzeitig sollen die Zustimmungs- und Beteiligungsraten bei Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene nach der Größe der Kommunen gestaffelt werden, um Bürgerbegehren auch in größeren Städten zu erleichtern.[8] Das mag alles richtig und vernünftig sein; eine Partizipationsrevolution wird die Umsetzung dieser Forderungen aber kaum auslösen. Insofern ist der oben formulierte Anspruch überzogen.

Darüber hinaus können Forderungen nach einem Informationsfreiheitsgesetz für Hessen und für eine Reform des Verfassungsschutzes ebenso zum Thema “Ausbau der Demokratie” gerechnet werden wie die Forderungen nach Stärkung des Verbraucherschutzes und “digitalem Grundrechteschutz” sowie nach einer Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamtinnen und -beamte.

Keine Frage, dass das Programm eine Reihe von beachtlichen demokratiepolitischen Forderungen und Vorschlägen enthält. Gemindert wird dieser Eindruck freilich durch pauschale und verkürzte Urteile über den Zustand der politischen Kultur und die Verantwortlichkeit der politischen Gegnerinnen und Gegner, die eher zur parteipolitischen Abgrenzungsrhetorik gehören. Insgesamt aber hinterlässt die Programmlektüre nicht den Eindruck, dass Demokratieentwicklung und Beteiligungsrechte wirklich hohe Priorität genießen.

Ein Jahr an der Macht

Einige Forderungen aus dem grünen Wahlprogramm finden sich auch in der schwarz-grünen Koalitionsvereinbarung. Hier ist das grüne Verlangen nach einer Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamtinnen und -beamte ebenso aufgenommen worden wie die Absenkung der Hürden für Plebiszite auf Landesebene. Letzteres soll im Rahmen eines “Verfassungskonvents” zur Reform der Hessischen Landesverfassung, der für das Jahr 2016 in Aussicht gestellt wird, in Angriff genommen werden.[9] Gleichzeitig werden Volksabstimmungen u. a. zur Verankerung des Staatsziels Ehrenamt und zur Herabsetzung des Mindestalters beim passiven Wahlrecht zu den Landtagswahlen angekündigt. Die von den Grünen verlangten Änderungen zu den kommunalen Volksbegehren und Volksentscheiden sollen geprüft werden.

In den Passagen über die Verbesserung des Verbraucherschutzes haben die Grünen ebenso wesentliche Elemente ihres Wahlprogramms einbringen können wie bei der “Förderung der Akzeptanz der Energiewende” durch frühzeitigen Dialog mit Bevölkerung und Interessenverbänden vor Ort sowie bei der Ankündigung, das “Mediationsangebot für den Ausbau Erneuerbarer Energien insbesondere im Bereich der Windkraft” verstetigen und weiterentwickeln zu wollen. Genaueres dazu findet sich freilich nicht.[10] Auch das Projekt eines Informationsfreiheitsgesetzes hat es in die Koalitionsvereinbarung geschafft. Vor einer gesetzgeberischen Initiative sollen allerdings erst einmal die im Bund und in anderen Bundesländern gemachten Erfahrungen ausgewertet werden.

Lassen sich im Koalitionsvertrag einige neue Initiativen zur Demokratiepolitik finden, so kommt dieses Politikfeld in der Broschüre Grün wirkt – 1 Jahr GRÜNE in der Regierung, die den Nachweis erfolgreicher Regierungsarbeit in Wiesbaden führen will, praktisch nicht vor. Der Abschnitt “zivilgesellschaftliches Engagement” beschränkt sich lediglich darauf, die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen zu loben.[11] Allenfalls die inzwischen gestartete Initiative zur Kennzeichnungspflicht für Polizistinnen und Polizisten sowie die vorgelegten Gesetzentwürfe zur Neuregelung des Verfassungsschutzes lassen sich diesem Thema zuordnen.[12] Neuerdings haben sich die Grünen mit dem Vorschlag hervorgetan, auch das Mindestalter für Bürgermeister und Landrätinnen auf 18 Jahre herabzusetzen.

Was immer man als Erfolg der grünen Regierungsarbeit bis Anfang 2015 bewerten mag: Wirklich bemerkenswerte Schritte in Sachen Demokratiepolitik sind rar. Sichtbare Initiativen in Richtung der versprochenen “neuen Beteiligungskultur” lassen sich bislang kaum finden.

Regierungsgrüne in Wiesbaden und Stuttgart

Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die Grünen in Baden-Württemberg als Vergleichsmaßstab nimmt. Hier hatte schon die Schaffung der Stelle einer Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Demokratie im Kabinettsrang gezeigt, dass Kretschmann & Co. die Belebung des politischen Raumes und die Förderung von Engagement und Partizipation ganz oben auf die politische Agenda gesetzt haben. Sicher hatte das 2011 auch mit der Sondersituation des Landes nach den breiten Bürgerprotesten im Zusammenhang mit “Stuttgart 21” zu tun. Aber die seither unternommenen Anstrengungen zeigen, dass es der grün-roten Landesregierung nicht nur um eine symbolische Geste ging: Die Förderung von Großgruppenmoderationen, der Leitfaden für eine neue Planungs- und Beteiligungskultur, die Reform des Planungsrechts, die Schaffung eines interministeriellen Ausschusses für Zivilgesellschaft und Beteiligungskultur – das alles sind konkrete Schritte, die nicht immer erfolgreich gewesen sein mögen, die aber doch zeigen, dass dem Thema hohe Priorität eingeräumt wird.[13]

Dies gilt auch für die Einrichtung eines “Beteiligungsportals” der Landesregierung, in dem die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, Bewertungen und Kommentare zu Gesetzentwürfen des Landes abzugeben. Zwar sind manche Gesetzentwürfe gar nicht kommentiert worden, immerhin finden sich aber 943 Kommentare zum Jagdgesetz. Das ist sicher keine Partizipationsrevolution, aber ein interessanter Versuch. Im Portal der hessischen Landesregierung findet sich unter Bürgerbeteiligung nichts, was damit vergleichbar wäre.

Dass die hessischen Grünen dem Thema auf Landesebene keine große Priorität einräumen, bestätigt auch die Landesvorsitzende Daniela Wagner, die von einer “Dominanz des politischen Alltagsgeschäfts” spricht. Dies geschehe freilich vor dem Hintergrund eines “großen Unwohlseins über den Zustand der Demokratie”. Die Partei nehme sehr wohl wahr, dass die Politik “eine wachsende Zahl von Menschen nicht mehr erreicht”.[14] Deshalb werde versucht, “einen diskursiven Rahmen zu schaffen, um Leute über Projekte an die Partei zu binden”. Dass die Grünen die Veränderungsprozesse der Parteiendemokratie weniger zu beschäftigen scheinen als die Großparteien CDU und SPD, erklärt Daniela Wagner durch die größere Betroffenheit der Volksparteien im Zuge von Mitgliederverlusten und nachlassender Bindungskraft: “Viele Parteimitglieder sehen uns doch noch immer als Nischenpartei.”[15]

Die kommunale Ebene in Hessen

Ein anderes Bild entsteht, wenn man den Blick auf die Kommunalpolitik der Grünen richtet. Hier ist Darmstadt näher beleuchtet worden. Für die Grünen dieser südhessischen Groß- und Wissenschaftsstadt, die seit den Kommunalwahlen 2011 mit über 32 Prozent der Stimmen die stärkste Fraktion und mit Jochen Partsch auch den Oberbürgermeister stellen, steht der Anspruch “Mehr lokale Demokratie wagen” an der Spitze ihres Wahlprogramms. Alle wichtigen Infrastrukturvorhaben sollen künftig in “bürgerschaftlichen Diskussionsforen” beraten werden, um “nach fachlicher Vorbereitung eine frühzeitige Abwägung über Alternativen und Kosten” zu ermöglichen.[16]

Oberbürgermeister Partsch betrachtet soziales Engagement, Bürgerbeteiligung und Demokratie als die zentrale politische Herausforderung in seiner Stadt: “Wie schaffen wir es, den Leuten das Gefühl zu geben, dass sich die Politik kümmert und dass sie hier gut leben? Und wie schaffen wir es, dabei auch die Stillen und die Leisen einzubeziehen? Mehr Bürgerbeteiligung ist das Zentrale, was wir hier machen.”[17]

Tatsächlich ist in Darmstadt inzwischen Einiges auf den Weg gebracht worden: Im Herbst 2013 hat der Magistrat die Einrichtung offener Stadtteilforen beschlossen. Mit ihnen soll ein kleinräumiger Rahmen für eine “integrative, partizipative Stadtentwicklung”[18] geschaffen werden. Partsch hält solche Foren bei der Umsetzung echter Bürgerbeteiligung ausdrücklich für geeigneter als die Einrichtung von Ortsbeiräten. Besondere Bemühungen gälten dabei der Einbeziehung der sozial Schwächeren.[19] Zur Förderung dieser Beteiligungsforen ist eine Bürgerbeauftragte tätig. Der ganze Prozess wird wissenschaftlich begleitet.

Inzwischen liegen “Leitlinien für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger” vor. Sie sind von einem “trialogisch” aus Bürgerschaft, Politik und Verwaltung bestehenden Arbeitskreis erarbeitet und vom Magistrat beschlossen worden. Zudem sollten sie über die gesetzlich vorgeschriebenen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger hinaus eine verlässliche und transparente Grundlage für die zusätzlichen Partizipationschancen liefern. Gegenstandsbereich sind alle Planungen und Projekte, bei denen “ein Gestaltungsspielraum” existiert und die in der Zuständigkeit der Stadtverordnetenversammlung und/oder des Magistrats liegen. Ausgeschlossen sind lediglich interne Angelegenheiten der Verwaltung und Vorhaben, “die eine Nichtöffentlichkeit erfordern”.[20]

Partsch sieht Darmstadt bei der Entwicklung der Bürgerbeteiligung mit der Verabschiedung dieser Leitlinien, die bindend sind für alle Fachämter und Dezernate, auf einem guten Weg. Zudem sei es bereits gelungen, auch Migrantinnen und Migranten nennenswert einzubeziehen, wenngleich sie noch immer unterrepräsentiert seien. Auch die sozial Schwächeren seien im Blick. Partsch verweist hier auf eine öffentliche Veranstaltung, bei der zum Thema “Einmal arm – immer arm?” tatsächlich auch das Betroffenenklientel teilgenommen habe.

Natürlich kann von Darmstadt nicht einfach auf andere hessische Kommunen geschlossen werden. Aber das Beispiel dieser Grünen-Hochburg zeigt, dass das Thema auf der kommunalen Ebene eine deutlich größere Rolle spielt. Warum sich dies nicht auch stärker in der Landespolitik fortsetzt, diese Frage konnten weder Partsch noch Wagner wirklich schlüssig beantworten.[21]

Das Problem: Ein realistischer Erfolgsmaßstab

Dass die Grünen von heute im Unterschied zu den Grünen der Gründerzeit längst aufgehört haben, Basisdemokratie und Bürgerbeteiligung als eigentliche Demokratie zu idealisieren sowie die repräsentativen und rechtsstaatlich-institutionellen Formen der Demokratie eher gering zu schätzen, spiegelt einen langen politischen Lern- und Reifungsprozess wider, der zum inzwischen erreichten Rollenwandel der Partei in der Gesellschaft erheblich beigetragen hat. Repräsentative Demokratie, Verfassung, Parlamentarismus, Mehrheitsprinzip, Minderheitenschutz – dahinter steht viel Weisheit und demokratische Erfahrung. Es ist weder sinnvoll noch möglich, zur Marktplatzdemokratie der griechischen Polis zurückzukehren. Wer als gewählter Repräsentierender parlamentarischer Gremien seinen Auftrag zu Entscheidungen verantwortlich wahrzunehmen versucht, muss sich dafür nicht entschuldigen.

Andererseits zeigen sich heutzutage in fast allen hochentwickelten Gesellschaften des Westens allerhand Schwächezeichen des repräsentativen Systems. Wo auf der einen Seite Bürgerinnen und Bürger mitreden, sich informieren, Druck machen und ihre Interessen selbstbewusst artikulieren wollen, zeigen sich andererseits vielerlei Anzeichen von politischem Desinteresse sowie Wahl- und Partizipationsmüdigkeit. Nahm vor dreißig Jahren noch mehr als die Hälfte der Bundesbürgerinnen und -bürger zumindest gelegentlich Anteil an den Debatten des Bundestages, so ist dies heute nicht einmal mehr jeder Vierte.[22] Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund muss Demokratiepolitik heutzutage gesehen werden.

Ein Hauptmangel der grünen Demokratiepolitik besteht gegenwärtig – nicht nur in Hessen – im weitgehenden Fehlen einer realistischen Bestandsaufnahme vom Zustand unserer Demokratie. Allzu oft ist die Partei der im politischen Konkurrenzkampf naheliegenden Versuchung erlegen, die Ursachen von problematischen Erscheinungen im Handeln der politischen Konkurrenz zu erblicken. Dabei ist doch der bereits seit zwanzig Jahren diagnostizierte Vertrauensverlust von Politik sowie der Politikerinnen und Politiker gegenüber der Wählerschaft weder von Rot-Grün noch von Schwarz-Gelb oder der Großen Koalitionen aufgehalten worden.

Nicht nur die strukturellen Probleme der modernen Demokratieentwicklung, aber eben auch sie, machen neue Formen von Transparenz und Bürgerbeteiligung erforderlich. Dazu zählen:

  1. Die umfassende Information der Bürgerinnen und Bürger über Planungen und Projekte: Die Möglichkeiten der modernen Medien sind dabei zu nutzen;
  2. Der gezielte Ausbau von Mediationsverfahren: Das kann Entscheidungen optimieren und Akzeptanz verbreitern;
  3. Die Verbesserung der Chancen für Plebiszite: Die Erleichterung der Chancen für die Einleitung von Volksbegehren und die Durchführung von Volksabstimmungen werden die aufgerissene Vertrauenskrise zwischen Bürgerschaft und politischen Repräsentierenden nicht beenden. Hier sollte nicht zu viel erwartet werden. Aber es entspricht einer modernen Demokratie, diese Möglichkeiten einzuräumen. Dass Bürgerentscheide dabei nicht immer jene befriedende Wirkung haben, die sich manche erhoffen, ändert daran nichts.
  4. Die Stärkung von Engagementbereitschaft durch Förderung des Ehrenamts: Alle Studien zeigen, dass soziales und gesellschaftliches Engagement auch Rückwirkungen auf politisches Engagement hat;
  5. Stärkung statt Schwächung der politischen Bildung: Die Einführung des Fachs “POWI” in Hessen anstelle von Politik war ein Fehler, der korrigiert werden sollte;
  6. Selbstbewusstes Regieren: Das ist kein Gegensatz zur Bürgerbeteiligung. Beteiligung ist selbstverständliches Element einer demokratischen Kultur;
  7. Die Möglichkeiten der neuen Medien sind umfassend zu nutzen: Das bedeutet freilich auch, dass an die Stelle der Beteiligung nicht die Illusion von Beteiligung treten darf. Dass der Hessische Landtag die Live-Stream-Übertragungen beendet hat und die Kosten einsparen will, ist angesichts von 120 Klicks ebenso nachvollziehbar wie die Tatsache, dass Frankfurt das Projekt Bürgerhaushalt aus denselben Gründen nicht weiterführen will.

Eine Partei mit der Tradition der Grünen kann Vorreiter und Anstoßgeber sein, wo es darum geht, Strukturen und Spielregeln für eine lebendige Demokratie im Internetzeitalter zu finden. Bislang ist sie dieser Aufgabe noch zu wenig gerecht geworden.


[1] Bündnis 90/DIE GRÜNEN Hessen (2013): Hessen will den Wechsel – Das grüne Regierungsprogramm 2014–2019, Wiesbaden, S. 4.

[2] Ebd., S. 5.

[3] Ebd., S. 9.

[4] Ebd., S. 25.

[5] Vgl. Ebd., S. 34.

[6] Ebd., S. 48.

[7] Ebd., S. 54.

[8] Vgl. ebd., S. 54, 62.

[9] Vgl. Verlässlich gestalten – Perspektiven eröffnen – Hessen 2014 bis 2019, Koalitionsvertrag zwischen der CDU Hessen und Bündnis 90/DIE GRÜNEN Hessen für die 19. Wahlperiode des Hessischen Landtages 2014–2019, Wiesbaden o. J. (Dezember 2013), S. 41.

[10] Vgl. ebd., S. 20 f.

[11] Vgl. Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Hessischen Landtag (Hrsg.): Grün wirkt – Hessen wird grüner und gerechter. Ein Jahr Grüne in der Regierung, Wiesbaden o. J. (Januar 2015), S. 62.

[12] Vgl. ebd., S. 72.

[13] Vgl. dazu das Beteiligungsportal der Landesregierung und den Internetauftritt der Staatsrätin Gisela Erler.

[14] Interview mit Daniela Wagner am 16.2.2015.

[15] Ebd.

[16] Bündnis 90/DIE GRÜNEN Darmstadt (2011): Darmstadt gestalten – lokale Demokratie stärken, Wahlprogramm zur Kommunalwahl 2011.

[17] Interview mit Jochen Partsch am 16.2.2015.

[18] Damit alle mitmachen können – Leitlinien zur Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. Empfehlungen vorgelegt vom Arbeitskreis Bürgerbeteiligung zur Erarbeitung von Leitlinien für die Bürgerbeteiligung für die Wissenschaftsstadt Darmstadt, Darmstadt 2015.

[19] Vgl. Interview mit Jochen Partsch am 16.2.2015.

[20] Vgl. Damit alle mitmachen können – Leitlinien zur Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. Empfehlungen vorgelegt vom Arbeitskreis Bürgerbeteiligung zur Erarbeitung von Leitlinien für die Bürgerbeteiligung für die Wissenschaftsstadt Darmstadt, Darmstadt 2015.

[21] Vgl. Interview mit Jochen Partsch sowie Daniela Wagner am 16.2.2015.

[22] Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2014): Bundestagsdebatten: Mehr Schlagabtausch unterm Bundesadler, Studie, 8.12.2014. 

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