Die neuen Spielregeln der kommunalen Demokratie in Nordrhein-Westfalen

Die neuen Spielregeln der kommunalen Demokratie in Nordrhein-Westfalen

Graffitis der Love Parade: Durch eine Abwahlinitiative konnte der Duisburger Oberbürgermeister nach dem Unglück abgelöst werden — Bildnachweise

Stärkere Kommunalparlamente, Erleichterungen von Bürgerbegehren und effektive Entscheidungsstrukturen: In Nordrhein-Westfalen setzen Demokratiereformen in den Kommunen an. Kritisch ist die Rolle der Staatskommissare.

Die Grünen in Nordrhein-Westfalen starteten, anders als in Baden-Württemberg, im Jahr 2010 unter sehr schwierigen Rahmenbedingungen in die Regierungsarbeit. Zunächst konnten sie nur als kleiner Koalitionspartner in einer Minderheitsregierung agieren und daher nur schwer ein konsistentes Programm umsetzen. Die haushaltpolitische Lage des Landes und der Kommunen war und ist zudem extrem angespannt. Schließlich ist der Koalitionspartner SPD in vielen Institutionen seit Jahrzehnten absolut dominant, weshalb die Grünen an der Basis der SPD durchaus distanziert gegenüberstehen, wie man u. a. an den vielen schwarz-grünen Koalitionen in den Kommunalparlamenten ablesen kann.

Wir wollen uns im Detail einen Bereich anschauen, in dem die manchenorts dramatische haushaltspolitische Lage des Landes nicht so stark durchschlagen kann wie in anderen und der sich fest als wichtiges Politikfeld seit den 1990er Jahren etabliert hat. In der Kommunalverfassungspolitik bzw. lokalen Institutionenpolitik haben die Landesparlamente je nach parteipolitischer Zusammensetzung sehr unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, welche die Spielregeln der kommunalen Demokratie maßgeblich bestimmen. In den Kommunen spielen sich gut 80 Prozent der Beteiligungen ab,[1] sodass mit den Kommunalverfassungen wohl der wichtigste Bereich der Demokratiepolitik der Bundesländer markiert ist.

Auch wenn nach der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister sowie von Bürgerbegehren in allen Bundesländern keine Verfassungsrevolutionen mehr zu erwarten sind, haben die Grünen in NRW in der Koalition sinnvolle Reformen angestoßen (und dabei auch einige gravierende Fehler gemacht), die auch für andere Bundesländer interessant sein dürften. Dabei folgen die Grünen einem demokratiepolitischen Leitbild für die Kommunen, das wie folgt umrissen werden kann: Stärkung der Bürgerbegehren und der Kommunalparlamente, ohne dass der Bürgermeister bzw. die Bürgermeisterin sich zum “kleinen Herrgöttle” aufschwingen kann.

Angesicht der Dominanz größerer Städte und starker Parteipolitisierung in NRW ist dieses Reformleitbild plausibel. In NRW geht kein Weg an den Kommunalparlamenten vorbei, und zu große Eigenständigkeit der Bürgermeister würde erhebliche Konflikte und Blockaden produzieren. Reformen sollten damit nicht nur mehr Partizipationsmöglichkeiten schaffen, sondern zugleich effektive kommunale Entscheidungsstrukturen gewährleisten.

Reformen der repräsentativen Demokratie in den Kommunen

Das Verhältnis zwischen Kommunalparlamenten und direktgewählten Bürgermeistern ist in NRW traditionell schwierig. Haben die Bürgermeister eine andere parteipolitische Färbung als die Mehrheiten im Kommunalparlament, läuft häufig nichts mehr. Der Rat macht von seinen umfassenden Rechten Gebrauch und kann sogar Beschlüsse der Bürgermeister zurückholen sowie durch Einkreisung mit Beigeordneten die Handlungsspielräume der Bürgermeister empfindlich einengen. Diese revanchieren sich dann damit, dass Beschlüsse nicht ausgeführt oder bei der Kommunalaufsicht angezeigt werden. Die starke Parteipolitisierung der Kommunalpolitik ist nur schwer mit der Direktwahl von Bürgermeister oder Bürgermeisterin kompatibel, sodass in dieses Verhältnis nur sehr sensibel eingegriffen werden kann, wenn die Blockadegefahren nicht potenziert werden sollen.

Die schwarz-gelbe Vorgängerregierung hat hier in ihrer Legislaturperiode wenig sensibel reagiert. Sie hat Bürgermeister- und Ratswahlen entkoppelt, die Amtszeit der Bürgermeister und Bürgermeisterinnen verlängert und sogar die Stichwahlen abgeschafft. Dies führte zu erheblichen demokratiepolitischen Problemen in den Kommunen. So hat die Entkoppelung der Wahlen dazu geführt, dass die Wahrscheinlichkeit für feindliche Ratsmehrheiten und den damit einhergehenden Blockadegefahren gegenüber Wahlen am selben Tag angestiegen ist.

Zudem führte die Abschaffung der Stichwahlen dazu, dass die Wählerschaft relativ leicht hinters Licht geführt werden konnte. Gelang es beispielsweise einem CDU-Bürgermeisterkandidaten, die Grünen davon zu überzeugen, einen eigenen Kandidaten oder eine eigene Kandidatin aufzustellen, und die FDP gleichzeitig zum Verzicht auf eine eigene Kandidatur zu motivieren, hatte er in der Regel die einfache Mehrheit gegen die SPD sicher und war damit gewählt. Jede Stimme der grünen Wählerschaft für ihren Kandidaten bzw. ihre Kandidatin anstelle für den Kandidaten oder die Kandidatin der SPD stärkte damit eigentlich die CDU.

Mit der rot-grünen Landesregierung wurde dieser Spuk, der viele Wählerinnen und Wähler irritiert hatte, beendet. Die Stichwahl wurde richtigerweise wieder eingeführt und die Rats- und Bürgermeisterwahlen sind zukünftig wieder gekoppelt. Als Innovation hat Rot-Grün die Möglichkeit von Abwahlinitiativen eingeführt. Der Duisburger Oberbürgermeister, der durch das Loveparade-Unglück in der Dauerkritik stand, aber nicht zurücktreten wollte, konnte so durch eine Abwahlinitiative der Bevölkerung abgelöst werden. Dies war bisher nur in einigen Bundesländern in Ostdeutschland möglich[2] und ist sicherlich eine sinnvolle Veränderung der süddeutschen Ratsverfassung, in der in Baden-Württemberg bei sehr langer Amtszeit des Bürgermeister oder der Bürgermeisterin die Abwahl innerhalb der Amtszeit überhaupt nicht möglich ist.

Mit der Möglichkeit von Abwahlinitiativen bleibt garantiert, dass die Bürgermeister nicht abheben und ihr Ohr auch in der Amtsperiode nah an der Bevölkerung haben. Zugleich hat die rot-grüne Landesregierung Fraktionszuschüsse und Aufwandsentschädigungen für die Kommunalparlamente zum Teil erheblich erhöht und trägt damit der Professionalisierung in den Räten Rechnung. In den im Bundesländervergleich durchschnittlich großen Städten Nordrhein-Westfalens wird mittlerweile eingeräumt, dass kommunale Spitzenpositionen als reines Ehrenamt kaum leistbar sind – zumindest wird der Aufwand nun besser vergütet.

Reformen der direkten Demokratie in den Kommunen

Der Anteil unzulässiger Bürgerbegehren liegt bundesweit bei knapp 23 Prozent; in NRW sind es sogar 36 Prozent. Zugleich scheiterten viele Bürgerbegehren an den Abstimmungsquoren, die gerade in größeren Städten kaum erreichbar waren. Insgesamt waren Bürgerbegehren in NRW damit eher “Papiertiger”. In der Regel konnten Bürgerentscheide kaum erfolgreich durchgeführt werden, was die Politikverdrossenheit eher befördert als abgebaut hat. So zeigt sich in NRW für die 1990er-Jahre, dass die Hauptgründe für eine Unzulässigkeit der fehlende Kostendeckungsvorschlag (in knapp 50 Prozent der Fälle) sowie Themenstellungen in den Bereichen Bauleitplanung und Öffentlichkeitsbeteiligung (25 Prozent der Fälle) waren.

Mittlerweile sind durch die rot-grüne Landesregierung allerdings sowohl die Quoren als auch die Zulässigkeitsbedingungen in NRW deutlich verbessert worden (Kostenschätzung statt Kostendeckungsvorschlag; Einleitungen von Bauleitplanverfahren können Gegenstand von Bürgerbegehren sein). Hier hat man sich den Regelungen in Bayern weitgehend angeschlossen, sodass Bayern und NRW bundesweit über die freundlichsten Regelungen für eine Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene verfügen. Insbesondere die Staffelung der Abstimmungsquoren nach Gemeindegröße (über 100.000 Einwohner = 10 Prozent; zwischen 50.000 und 100.000 = 15 Prozent; unter 50.000 = 20 Prozent) ist sinnvoll, da die Bürgerinnen und Bürger in Großstädten deutlich schwieriger flächendeckend zu erreichen und zur Abstimmung zu mobilisieren sind. Dies könnte ein gutes Vorbild für andere Bundesländer sein.

Staatskommissare statt kommunaler Selbstverwaltung?

Eindeutig negativ schlägt in der Demokratiebilanz der rot-grünen Landesregierung die Bestellung von Staatskommissarinnen und -kommissaren im Rahmen des sogenannten Stärkungspaktes zu Buche. Bei den extrem hohen Kassenkrediten der NRW-Kommunen, die bundesweit die Hälfte der Kassenkredite aller Kommunen halten, hat sich die rot-grüne Landesregierung dazu durchgerungen, einen Schutzschirm für diese Kommunen aufzuspannen, wie es beispielsweise auch in Niedersachsen, Hessen und Rheinland-Pfalz der Fall ist.

Allerdings gibt es nur in NRW eine direkte Androhung von Staatskommissaren, wenn die Kommunen die geforderten eigenen Konsolidierungsmaßnahmen nicht erbringen. Dies ist im Wesentlichen auf die damalige rot-grüne Minderheitsregierung zurückzuführen, welche die Zustimmung der FDP damit erkaufte, dass sie diese Regelung ins Gesetz aufnahm. Hier zeigen sich wiederum die Schwächen einer Minderheitsregierung, die keine Politik “aus einem Guss” realisieren kann, sondern immer auf Stimmen aus anderen Lagern angewiesen ist.

Dieser Betriebsunfall der Minderheitsregierung wurde auch nicht unter der anschließenden rot-grünen Mehrheitsregierung zurückgenommen. Im Gegenteil: Rot-Grün hat erstmals in der Geschichte in NRW – klammert man die Endphase der Weimarer Republik aus – Staatskommissare in die Kommunen entsandt. Zwar waren die Staatskommissare immer schon Bestandteil der Kommunalverfassung, aber doch eher eine theoretische Größe. Nun sind sie jedoch zu bestellen, wenn die Kommunen die hohen Einsparvorgaben des Stärkungspaktes nicht erfüllen können oder wollen.

In die kreisangehörigen Kommunen Nideggen und Altena wurden bereits Staatskommissare entsendet, die anstelle des Rates alle haushaltsrelevanten Beschlüsse treffen. Demokratie findet hier nicht mehr statt; die Ratsmitglieder dürfen noch nicht mal als Zuhörende an den nicht öffentlichen Sitzungen der Staatskommissare teilnehmen. Auch Bürgerentscheide sind in dieser Phase aus Sicht des Innenministeriums nicht mehr zulässig. Zugleich wird vielen Kommunen die Entsendung von Staatskommissaren angedroht, wenn sie, wie in Nideggen und Altena geschehen, nicht bereit sind, die Hebesätze der Grundsteuer B zu verdoppeln.[3]

Details mit gegenläufigen Effekten

Abgesehen davon, dass die Hebesatzautonomie der Kommunen im Grundgesetz eigentlich garantiert ist und diese kleineren Kommunen nun höhere Hebesätze haben als Metropolen wie München oder Hamburg, ist dies demokratiepolitisch wohl der größte Rückschritt durch Rot-Grün. Selbst wenn die Bestellung von Staatskommissaren “nur” angedroht wird, erodieren alle demokratischen Verantwortlichkeiten, da die Wählerschaft nicht mehr weiß, wen sie für extreme Steuererhöhungen zur Rechenschaft ziehen kann – den Stadtrat, den Kämmerer, die Bürgermeisterin, die Aufsichtsbehörde oder doch die rot-grüne Landesregierung?

An dieser Stelle besteht erheblicher Optimierungsbedarf, wobei die Finanzhilfen für die gerade durch erhebliche Soziallasten in die Haushaltskrise geratenen Kommunen insgesamt sicherlich begrüßenswert sind. Hieran wird aber auch deutlich, wie sehr Demokratiepolitik durch gesetzgeberische Details bestimmt wird, die dann in der Implementierung nicht intendierte oder sogar gegenläufige Effekte haben können.

So ist die Landesregierung auch im Fall des Stärkungspaktes angetreten, die kommunale Demokratie durch den Stärkungspakt und den Abbau von Eingriffen der Aufsichtsbehörden zu fördern, und hat in diesem Fall – bei einer sonst sicherlich zufriedenstellenden Demokratiebilanz – genau das Gegenteil erreicht. Die Parlamente und rot-grünen Landesregierungen müssen daher mehr die Folgen ihrer demokratiepolitischen Gesetze im Blick haben. Gerade hier sind unabhängige Gesetzesfolgenabschätzungen und wissenschaftliche Evaluationen nötig, um gegenteilige Effekte zu vermeiden bzw. frühzeitig auf massive Probleme im Vollzug reagieren zu können.

 

[1]      Roth, Roland (2013): Demokratiereformen – Handlungsmöglichkeiten auf Länderebene (PDF), Heinrich- Böll-Stiftung, Berlin, S. 12.

[2] Bogumil, Jörg / Holtkamp, Lars (2013): Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung – Eine praxisorientierte Einführung, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

[3]     Vgl. ausführlicher: Holtkamp, Lars / Fuhrman, Tobias (2014): Kommunale Selbstverwaltung zwischen Steuerschraube und Staatskommissar. Eine Zwischenbilanz zum Stärkungspakt (PDF), in: der gemeindehaushalt 7/2014: 145–148.

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