Leidet unsere Demokratie tatsächlich an tiefgreifenden Problemen? Die Schulpolitik in Nordrhein-Westfalen zeigt, wie aus einem zivilgesellschaftlichen Prozess ein politischer Konsens werden kann.
Seit langem wird auf allen Ebenen und in vielen Gremien über eine Reform unserer repräsentativen Demokratie debattiert. Das Thema kocht immer wieder hoch, geht durch die Medien und wird in den Feuilletons diskutiert, verschwindet und taucht wieder auf, wenn beispielsweise Parteien mit den vermeintlich besten Rezepten zur Reform unserer Demokratie Wahlerfolge feiern oder neue Negativrekorde bei der Wahlbeteiligung vermeldet werden müssen.
Gerade auf Landesebene werden diese Diskussionen mit Verve geführt, denn hier treten die zweifellos vorhandenen Defizite am sichtbarsten hervor. Denn abgesehen von der Europawahl ist die Wahlbeteiligung bei Landtags- und Kommunalwahlen am niedrigsten; hier ist am ehesten zu spüren, welche Probleme das Nicht-Interesse der Öffentlichkeit an politischen Fragestellungen auslöst.
Die stetig wachsenden Aufgaben und die enormen finanziellen Probleme der Kommunen, die an Rhein und Ruhr herrschen, führen zu einem diffusen Gefühl in der Bevölkerung, dass Politik keine Probleme mehr lösen kann und damit zu einer stetig sinkenden Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen.
Das Urteil des Landesverfassungsgerichts 1999, mit dem die Sperrklausel bei Kommunalwahlen gekippt wurde, hat die Zersplitterung der kommunalen Parlamente befördert. Die Folge: keine klare Mehrheits- und Verantwortungsbildung, Zufallsmehrheiten, oft verlängerte Sitzungszeiten und endlose Debatten. In Verbindung mit den meist geringen Ressourcen der Fraktionen vor Ort und den im Vergleich zum steigenden Aufwand niedrigen Entschädigungen für die Ausübung des Mandats schlägt das Pendel interessierter Menschen daher immer öfter in Richtung Familie und Freunde und/oder projektbezogenem Engagement aus, jedoch immer seltener in Richtung eines kommunalpolitischen Engagements.
Vom Grundsätzlichen zum Praktischen
Dennoch werden viele Debatten zu fundamental geführt. Ist es denn tatsächlich so, dass unser System an tiefgreifenden Problemen leidet? Steht es wirklich kurz vor dem Kollaps und braucht grundsätzliche Veränderungen? Sind die Parteien schuld? Sind die Verwaltungen zu träge und zu selbstfixiert? Sind die Politikerinnen und Politiker betriebsblind geworden? Werden die Bürgerinnen und Bürger nur alle vier oder fünf Jahre zum Wahltermin als “Stimme” wahrgenommen, die es zu gewinnen gilt?
Ich meine: Nein. Wir in Nordrhein-Westfalen haben gezeigt und zeigen, dass wir die Menschen auch im Rahmen der bestehenden Verhältnisse mitnehmen und gemeinsam mit ihnen und für sie Politik machen können. Statt nach der einen, der ganz großen Reform zu rufen, sollten wir daher schauen, ob der vorhandene Rahmen nicht doch eine gute Grundlage bietet, um die Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungen zu beteiligen.
Die “Koalition der Einladung”
Wie man den bestehenden Rahmen für Beteiligung nutzen kann – genau das haben wir in Nordrhein-Westfalen seit 2010 unter vermeintlich schwierigen Bedingungen gezeigt. Nach einem sehr schwierigen Ergebnis bei der Landtagswahl haben wir unsere Chance genutzt und eine Minderheitsregierung gebildet. Eine Regierung braucht aber Mehrheiten, nicht nur im Kabinett, sondern auch im Parlament, um ihre Ziele verwirklichen. Wir haben deshalb den Auftrag, gesellschaftliche Mehrheiten auch in politische Mehrheiten zu verwandeln, sehr ernst genommen. Wir mussten alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen frühzeitig in unsere Vorhaben und Planungen einbeziehen, um dann gemeinsam mit der Gesellschaft auch im Landtag die benötigten Mehrheiten zu suchen und zu finden.
Das war keine einfache Aufgabe; dennoch haben wir sie nicht als Zwang empfunden. Die von uns postulierte “Koalition der Einladung” war keine leere Worthülse, sondern wurde und wird von uns mit Leben gefüllt. Sie hat zwei Jahre hervorragend funktioniert und ist nicht an sich selbst gescheitert, im Gegenteil.
Wir haben Betroffene in allen politischen Themenfeldern zu Beteiligten gemacht und konnten mithilfe dieser Strategie einige Projekte entwickeln und umsetzen, an denen ganze Politikergenerationen in den Jahrzehnten vor uns gescheitert waren – und d die Bevölkerung hat bei der vorzeitigen Landtagswahl 2012 sicher auch diesen Weg positiv gewürdigt.
Der Schulkonsens
Eines der entscheidenden Projekte war die Erarbeitung des Schulkonsenses. Kein politisches Thema ist derart schwierig, komplex und mit Ideologie behaftet wie die Bildungspolitik mit all ihren Facetten. In keinem anderen Gebiet finden sich derart viele Betroffene. Die sicherlich unvollständige Liste umfasst nicht nur Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrer. Auch Kirchen, Kommunen, Sportverbände, musikalisch Engagierte, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und viele andere mehr können und wollen in diesem Bereich mitreden und Einfluss nehmen.
Deshalb haben wir eine mindestens jährlich tagende Bildungskonferenz eingerichtet, die sich aus Vertreterinnen und Vertretern der oben genannten Gruppierungen zusammensetzt und in vielen langen, aber immer konstruktiven Sitzungen Empfehlungen erarbeitet hat, die schließlich im nordrhein-westfälischen Schulkonsens mündeten. Der Schulkonsens wurde auch formal zwischen den Parteien vereinbart, damit die tiefgreifenden strukturellen und inneren Veränderungen, die sich über viele Jahre im Schulsystem abgezeichnet haben, institutionalisiert werden können, die Schulen bis 2023 Planungssicherheit haben und nicht vor und nach jedem Regierungswechsel eine Rolle rückwärts fürchten müssen.
Der zivilgesellschaftliche Konsens hat dem politischen den Boden bereitet. Eine breite Akzeptanz war die Folge. Die Gewinnerinnen und Gewinner sind unsere Kinder. Es gilt: Pragmatismus statt Ideologie. Wir haben mit dem Konsens unser Schulsystem zukunftsfähig gemacht und das Recht auf Bildung für alle Kinder mit Leben gefüllt. Ohne auf Details einzugehen, ist auch eine größere Verantwortungsübernahme der Kommunen und damit der Bürgerinnen und Bürger für die Schulentwicklung vor Ort Teil des Schulkonsenses. Auch dies ist eine mittelbare Stärkung der Demokratie.
Mit der Bildungskonferenz war und ist es möglich, eine fachlich fundierte, breite Diskussion zu führen, füreinander Verständnis zu wecken und gemeinsam Lösungswege für die bestehenden Herausforderungen zu entwickeln. Wäre nicht dieser Weg gewählt worden, sondern hätte beispielsweise die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die Schulstruktur bestanden, dann wäre von vielen Menschen eventuell eine Entscheidung in Unkenntnis ihrer Auswirkungen getroffen worden, mit unabsehbaren Folgen für unsere Kinder.
Aber auch in anderen Bereichen beteiligen wir die Menschen – zum Beispiel bei der Erstellung des Klimaschutzgesetzes. Vor dem Entwurf des Gesetzes haben über 400 Vertreterinnen und Vertreter aus der Gesellschaft Vorschläge für ein solches Gesetz entwickelt, die anschließend in einem Online-Verfahren von allen Bürgerinnen und Bürgern diskutiert werden konnten. Erst danach haben wir das Gesetz erarbeitet und dem Landtag zugeleitet.
Ähnliches gilt für den Maßregelvollzug, wo die Diskussion um neue Forensik-Standorte vom zuständigen Ministerium in vielen Regionalveranstaltungen mit den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern breit geführt wurde.
Reformen mit Augenmaß
Trotz der von uns genutzten Beteiligungsinstrumente haben wir dort, wo es uns notwendig erschien, im kleineren Rahmen Reformen durchgesetzt, um unsere Demokratie und Partizipation generell zu stärken.
Dazu gehörte die Wiedereinführung der Drittelparität in den Schulkonferenzen, damit Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer zu gleichen Teilen an sie betreffenden Entscheidungen in der Schule mitwirken können. Insbesondere Schulen sind wichtige Akteure, wenn es darum geht, unser demokratisches System zu gestalten. Dort erleben und erlernen unsere Kinder die Übernahme von Verantwortung, Solidarität mit anderen, Engagement für die Gesellschaft und Formen der Beteiligung. So wachsen sie zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern heran und sichern unsere Zukunft als Demokratie.
Zudem haben wir die Stichwahl bei den Bürgermeisterwahlen wieder eingeführt, die Wahltermine von Bürgermeister- und Ratswahlen wieder zusammengelegt und die Hürden und Ausschlusskriterien für Bürgerbegehren und -initiativen gesenkt.
Fazit
Die formalen Fragen zur Demokratie sind das Eine; zu echter gelebter Demokratie gehört aber mehr. Ich kann nur jeder bzw. jedem politisch Aktiven raten, sich auf diese nicht verbindlich festgelegten Formen der Beteiligung, die ja ganz unterschiedlich sein können, einzulassen. Schließlich machen wir für die Menschen und mit den Menschen Politik – und nicht über ihre Köpfe hinweg. Gerade dadurch, dass diese Beteiligungsformen nicht rechtlich verankert sind, haben wir die Möglichkeit, die Menschen flexibel und kreativ in unsere Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
Was aber nicht unterschätzt werden darf und in vielen Diskussionen zu kurz kommt: Nicht nur Nordrhein-Westfalen ist ein sozial enorm heterogenes Land, was unweigerlich Auswirkungen auf die politische Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen hat. Deswegen sind “weiche” Beteiligungsformen besser als die institutionelle Reform der repräsentativen Demokratie in Richtung direktdemokratischer Elemente. Vor allem über die Beteiligung von Interessenverbänden wird gewährleistet, dass auch diejenigen, die am Rand der Gesellschaft stehen, eine wirkungsvolle Stimme bekommen. Und natürlich muss auch der Erwartung vorgebeugt werden, dass alle einzubinden nicht bedeutet, dass sich auch alle durchsetzen.
Die Welt wir komplexer, unsere Aufgaben und Herausforderungen werden es auch. Umso wichtiger ist es, dass ein Land regierbar und das politische System berechenbar bleibt. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass es nicht immer der große Wurf, die tiefgreifende Reform oder die visionäre Idee sein muss, um Beteiligung sicherzustellen. Der Interessenausgleich gelingt häufiger und ist tragfähiger, als allgemein vielleicht bekannt ist.
Gerade im Vergleich zu vielen anderen Staaten auf der Welt haben wir ein verlässliches, professionelles und bürgernahes politisches System, und zwar auf allen Ebenen. Natürlich muss immer wieder überprüft werden, ob es unseren Ansprüchen noch genügt und für die Herausforderungen unserer Zeit noch adäquate Antworten bietet. Aber es muss eben auch mit Leben gefüllt und genutzt werden. Die Beteiligung der Menschen, für die Politik arbeitet, kann im bestehenden Rahmen gelingen – das zeigt das Beispiel Nordrhein-Westfalen.
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