Wir brauchen ein neues republikanisches Bewusstsein

Wir brauchen ein neues republikanisches Bewusstsein

Robert Habeck — Bildnachweise

Aus der Beobachtung aktueller Protest- und Beteiligungsformen folgt vor allem eines: Wir brauchen nicht nur breitere demokratische Mitbestimmung, sondern auch ein neues republikanisches Bewusstsein.

Das Stöhnen über die Parteien, die angeblich immer nur partikuläre Interessen verfolgen, hat in Deutschland lange Tradition. Und die Krise der Demokratie ist so alt wie die Demokratie selbst. Sie begann mit den Staatsreformen von Solon im antiken Athen und endet auch nicht mit Colin Crouchs Diagnose einer „Postdemokratie“. Dazwischen haben sich im Grunde alle Staatsdenker und -lenker mehr oder weniger sinnreich zum Zustand der Demokratie geäußert. „Krise“ ist dabei nur allzu oft das negative Wort für ein demokratisches Faktum: Dass nämlich unsere Staatsform ein lernendes System ist, das sich immer weiter fortentwickelt, ja fortentwickeln muss.

Alle Versuche und alle Ideen, die Demokratie zur Perfektion zu bringen, verkennen ihren performativen Charakter. Alle Superlative der politikverdrossenen Rhetorik verhöhnen das Wachsende, die lernende Dimension der Herrschaft des Volkes. Demokratie ist die Staatsform der unspektakulären Bescheidenheit. Deshalb scheint es so attraktiv, sie gering zu schätzen, womöglich zu missachten in einer unbescheidenen Gesellschaft. Und sofern man es bei Politikerinnen und Politikern mit Charakteren zu tun hat, müssen sie – um sichtbar, erkennbar und unterscheidbar zu sein – prinzipiell eine Form von Eitelkeit leben wollen.

Aber Politik als „schmutziges Geschäft“ abzutun, pauschal zu diffamieren, sich zu Komplizen des allzu selbstgerechten Parteien-Bashings zu machen, verkennt eben den grundsätzlichen, den grundlegenden moralischen Wert von Aushandlungsprozessen, der nämlich in der Achtung für die andere Meinung liegt. Zudem fügt sich das wohlfeile Parteien-Bashing in eine unrühmliche Unterströmung der deutschen Seelenlandschaft ein, die auf Führung durch Autoritäten setzt und die Entmündigung der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mindestens billigend in Kauf nimmt. Damit Entscheidungen von einzelnen Berufenen, Legitimierten, den Repräsentanten des Gemeinwesens breit und allgemein akzeptiert werden, brauchen diese Systeme und Institutionen die Aura der Staatlichkeit, ein Ethos der Herrschaft, um ihnen eine Autorität zu verleihen, die über die der einzelnen, der „natürlichen“ Person hinausgeht.

Der Protest ist bürgerlich geworden

Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass sich nicht nur Politik, sondern auch aus Politik resultierendes Verwaltungshandeln erklärt. Ich bin als Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume in Schleswig-Holstein immer da politisch unter Druck geraten, wo wir es nicht geschafft oder nicht daran gedacht haben, unsere Entscheidungen frühzeitig zu kommunizieren. Erlasse oder Verordnungen zum Tierschutz etwa habe ich stets zuvor mit allen Beteiligten, den Repräsentanten der Tierschützer und der Bauern, an einem Runden Tisch abgestimmt und letztlich wurden die gesetzten Normen gemeinsam mitgetragen.

Aber als ich Ostern 2013 politisch angeboten hatte, dass im Land Schleswig-Holstein Castoren aus der Wiederaufbereitung in Sellafield an ihren Standorten lagern, damit nicht weitere Castoren nach Gorleben gehen müssen und Deutschland nochmals über ein neues Endlager diskutieren kann, wäre es nicht undenkbar gewesen, dass ich hätte zurücktreten müssen. Und wenn es so gekommen wäre, dann wohl deshalb, weil ich zuerst mit den Medien und nicht mit den Bürgerinnen und Bürgern in Brunsbüttel, den politischen Verbänden, der Anti-AKW-Bewegung gesprochen hatte. Ich hatte ihre Zustimmung vorausgesetzt bzw. gar nicht daran gedacht, dass sie meine Abwägung, meine Einschätzung, meine Entscheidung nicht teilen würden. Insofern ist eine Analyse des grünen Regierungshandelns zwingend notwendig – nicht nur für die Partei, sondern auch als Beitrag zur demokratischen Positionsbestimmung. Allerdings sollte sie den politischen Ansatz und einige Rahmenbeobachtungen nicht ignorieren, die auch das Böll-Projekt deutlich politisieren.

Zum Ersten ist festzustellen, dass Protest bürgerlich geworden ist. Das war schon bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21 zu beobachten. Auch in meinem Umfeld sind es meist Akademikerinnen und Akademiker, Selbständige oder Beamtinnen und Beamte – häufig älteren Jahrgangs –, die sich Sorgen um die Zukunft machen. In Schleswig-Holstein gibt es ein vorbildlich niedriges Quorum für Bürgerbegehren. Die bisher stattgefundenen Initiativen wollten die Rechtschreibreform verhindern, die Aufhebung von G8 an Gymnasien und den Bau der Autobahn A20 – alles klassische Mittelstandswünsche.

Was politische Bewegungen – Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie – in die Debatte einbringen, ist die Skepsis, dass verabredete Werte einer Gesellschaft – Fortschritt, Zivilisation und immer weiter optimierter Wohlstand – das Gegenteil von dem bewirken können, was sie eigentlich wollten. Sie fordern das Bewusstsein und das Bewusstmachen ein, dass Techniken auch das Gegenteil von dem bewirken können, was sie versprachen und verhießen. Heute artikuliert sich dies im Widerstand gegen Fracking, gegen Windkraftanlagen und Stromtrassen: Ich habe in den letzten Jahren viele Bürgerkongresse zur Planung und Errichtung von Stromtrassen durchgeführt.

Personengruppen werden zum Problem erklärt

Berechtigterweise haben die Menschen Sorge vor elektromagnetischer Strahlung, Werteverlust ihrer Häuser und Grundstücke, vor Eingriffen in die Natur. Aber während man bei Windkraftanlagen auch auf die eine oder andere Mühle verzichten kann, wenn es höherwertige Güter gibt, so kann eine Stromleitung nicht mitten im Gelände abbrechen. Sie muss sinnvoll von A nach B. Und so ist es mit politischen Herausforderungen und Entscheidungen insgesamt. Viele können häufig nicht sagen, was sie wollen, allerdings können nicht wenige sich schnell auf die Summe der Ablehnung einigen. Allein: Die Summe aus lauter Einzelinteressen und individuellem Nein-Sagen bringt keine Lösung. Die reine Summe aus vielen individuellen Interessen kann nicht automatisch zu einem funktionierenden Gemeinwesen führen. Irgendwann muss sich eine Gesellschaft auf etwas verständigen, das mehr ist als ein „Nein“.

Aber damit nicht genug: Mit Pegida gibt es eine Bürgerbewegung gegen eine angebliche „Islamisierung des Abendlandes“, und mit der AfD eine politische Partei, welche die europäische Integration desintegrieren möchte. Es gibt Wutbürgerinnen und -bürger auf der Straße, Trolle im Internet und in den Online-Leserbriefen von Zeitungen jede Menge unappetitliche Äußerungen und Erscheinungen. Die Partizipation als neue demokratische Form, welche die repräsentative Demokratie bereichert, hat ihre Unschuld verloren. Im Overkill der Informationen und Schlagzeilen können mit Ressentiments beladene Menschen alles und jedes für sich als Bedrohung reklamieren. Und wenn alles als eine Verschwörung gesehen wird, dann sind eben auch alle Argumente gegen die Verschwörungsthese keine Argumente, sondern „Lügen“.

„Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen“ (Karen Duve) oder „Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ (Akif Pirinçci) – ganz so einfach ist der offenen Gesellschaft und ihrem Freiheitsversprechen wohl nicht beizukommen. Dabei ist das Muster durchschaubar: Angst, Ressentiments und Intoleranz prägen ein simples Weltbild aus Vorurteilen. Irgendjemand ist immer an allem schuld. Der empörte Fingerzeig ist aber selten ein analytischer Beitrag und noch seltener geht er der Frage nach, was der systematische Kern eines Problems ist. Sobald eine Personengruppe zum Problem erklärt wird, statt das Problem an sich zu analysieren, hat der überhebliche Bewegungsmoralismus sein Opfer gefunden.

Das gilt für das Schimpfen auf Flüchtlinge und Homosexuelle ebenso wie für das Fingerzeigen auf Bäuerinnen und Bauern, Bankerinnen und Banker oder Politikerinnen und Politiker – gleich, ob der Finger von rechts nach links oder umgekehrt zeigt. Nur ist der Weg der Analyse über das System schwieriger und schwerer zu kommunizieren. Analyse verlangt Genauigkeit, Beurteilung verlangt Gesetze, politische Akteure verheddern sich leicht in Zahlen und Rechtnormen, und was sie ausführen, klingt in manchen Ohren wie Ausreden. Ein in sich geschlossenes Weltbild ist auch als Protestform kein Beitrag zur Meinungsbildung und meistens auch nicht besonders substanziell.

Die Schweinswale vor Schleswig-Holstein

Hannah Arendt hat einmal gesagt, dass Macht nicht einem Menschen gehört, sondern zwischen den Menschen steht. Das ist ein starker Gedanke und ein schönes Bild. In einer Demokratie muss verhandelt werden. Gesellschaftliche Werte bilden sich im Gespräch und im Streitgespräch zwischen den Menschen. Insofern ist das Wutbürgertum der abgründige Spiegel Merkelscher Erfolge. Ohne Frage hat die Bundeskanzlerin es verstanden, die Republik zu einem parteien- und schichtenübergreifenden Konsens zu führen, wie er in Deutschland selten zuvor erreicht wurde. Und das ist eine Leistung! Allerdings ist diese um den Preis erzielt worden, dass manche Beiträge und Bewegungen immer schwieriger zu integrieren sind in den großen, flauschigen innenpolitischen Konsens.

All die Diskussionsforen und partizipativen Angebote, die Parteien und Regierungen unternehmen, sind insofern auch als weitere Instrumente zur Durchsetzung der jeweiligen politischen Pläne zu werten. Sie funktionieren wie Nudges, wie Anreize, welche die Wege der Entscheidungsfindung zwar attraktiver machen, aber letztlich nicht zu grundsätzlich anderen Entscheidungen führen. Vielleicht sind diese virtuellen politischen Debatten aber auch nur vorgetäuscht: Da wird mal richtig Luft abgelassen, gearbeitet wird dort eher nicht!
Neue Wege zur Mehrheitsfähigkeit verlangen neue Formen, um dem Ergebnis Verbindlichkeit zu geben.

Ein Beispiel: Im Sommer 2013 wollte ich vor den Ostseeküsten Schleswig-Holsteins drei stellnetzfreie Gebiete einräumen. Vorausgegangen war ein umfänglicher Beteiligungsprozess, ich hatte die Küste abgereist und mit den jeweiligen Fischerinnen und Fischern in ihren Wohnstuben die konkreten Fahrrouten und Fischgebiete der Kutter durchgesprochen. Ich war überzeugt davon, einen Vorschlag präsentieren zu können, der alle Belange ausgewogen berücksichtigt. Dennoch erwies er sich unter dem politischen Trommelfeuer als nicht durchsetzbar. Irgendwann zog ich den Regelungsentwurf zurück und verhandelte mit den Fischerinnen und Fischern erneut. Heraus kam jetzt keine staatliche Regelung, sondern eine Vereinbarung, die nicht einzelne Gebiete adressiert, sondern die Gesamtnetzmenge pro Kutter reduziert.

In der Summe ist für die Schweinswale mehr erreicht – allerdings kritisieren die Naturschutzverbände die Form der Lösung stark. Sie wollen hier staatliches Ordnungsrecht, keine zivilgesellschaftlichen Beteiligungsverträge. Das weist auf ein weiteres grundsätzliches Problem neuer demokratischer Partizipation hin. Im schlimmsten Fall entlassen Beteiligungsformen die Verantwortlichen aus ihrer Pflicht. Entsprechend tun sich die traditionellen Verbände der Ökologie oder der Umwelt-, Natur- und Meeresschützer, ja sogar die Bürgerinitiativen, mit neuen partizipativen Formen, mit freiwilligen Vereinbarungen, Runden Tischen sowie einem ordnungsliberalen Ansatz, der zwar das Allgemeine regelt, aber das Konkrete nicht, am schwersten.

Sie wollen Verordnungen und Erlasse bis ins Detail, während sich die Verbände der Nutzerinnen und Nutzer, der Bauernverband, Haus und Grund, Industrie- und Handelskammer sehr wohl fühlen mit den neuen Partizipationsangeboten – sie verstehen es allerdings auch, diese sehr geschickt für sich zu nutzen.

Politik ist keine demokratiepädagogische Übung

Und noch eine verstörende Beobachtung möchte ich nicht verschweigen. Man kann sie übrigens auch an der Debatte über die bundesgrüne Partei- und Fraktionsführung ablesen: Je moderner, vielfältiger und pluraler die Formen der Beteiligung, desto wichtiger und entscheidender werden altmodische Werte und archaische Formen von Macht: Authentizität, Charisma, Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Genau diese Kriterien sollten ja durch die modernen Beteiligungsformen und demokratischen Kontrollmechanismen überwunden werden, zumindest in ihrer Bedeutung zurückgedrängt. Es ist aber genau andersherum. Je facettenreicher das Spielfeld der Demokratie, desto einladender für die Akteurinnen und Akteure, die sich auf ihm breit machen möchten – und desto größer der Wunsch der Menschen, genau solche zu erleben und zu erfahren.

Aus all dem kann man schlussfolgern, dass wir nicht nur neue und breitere demokratische Beteiligung brauchen, sondern mindestens ebenso dringend ein neues republikanisches Bewusstsein. Es ist eben nicht so, dass die bewegten, engagierten Laien immer recht haben (so wenig wie die informierten Profis). Es ist eben nicht so, dass alle Menschen, die Politikerinnen oder Politiker werden, nur korrupt und böse sind. Dennoch gab es in der letzten Zeit ein Übergewicht des Misstrauens gegen Institutionen und gegen die Regierenden. Diese haben versucht, sich dem zu entziehen, indem sie nicht mehr erklärt haben, worum es in der Politik eigentlich geht.

Beteiligungsformen, die nicht aus der Verantwortung entlassen, müssen erstens stärker institutionalisiert werden und als Recht auszuüben sein. Zweitens müssen Politikerinnen und Politiker klarer machen, was sie eigentlich wollen und worum es geht. Politik wird attraktiv, wenn es ihr um etwas Ernstes geht. Politik ist keine demokratiepädagogische Übung, sie verändert Wirklichkeit. Sie hat konkreten Einfluss auf die Lebensumstände. Und drittens, gerade wenn es um etwas Ernstes geht, muss man sich klar machen, dass nicht alle kommenden Entscheidungen formalisiert und vorhersehbar sind. Entsprechend brauchen wir wieder einen Sinn für den Grundvertrag, auf dem eine Republik aufbaut: Wir statten Menschen mit Macht auf Zeit aus, um Recht zu setzen und auf der Grundlage des Rechts gesellschaftliche Antworten zu verabreden, in der Annahme und entlang des Versprechens, dass sie diese Macht zum Wohle der Allgemeinheit ausüben.

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