Vielfalt in der Bürgerbeteiligung: Das Beispiel "Community Organizing"

Vielfalt in der Bürgerbeteiligung: Das Beispiel "Community Organizing"

Gründung der Bürgerplattform Neukölln (Aufnahme aus dem Video s.u.) — Bildnachweise

Bürgerbeteiligung ist meist eine Sache des Bildungsbürgertums. Das Konzept der Bürgerplattformen verbindet verschiedene Schichten und Kulturen auf Basis gemeinsamer Interessen. Ziel ist, dass kommunale Gemeinschaften auf Augenhöhe mit Politik und Verwaltung agieren können.

Veranstaltungen zu Bürgerbeteiligung oder bürgerschaftlichem Engagement sind häufig von Menschen mit weißer Hautfarbe geprägt, die aus der Mittelschicht und dem Bildungsbürgertum stammen. Bei der Gründungsversammlung der Bürgerplattform „Wir in Neukölln“ (WIN) im Jahr 2012 waren hingegen 1.044 Bürgerinnen und Bürger aus 31 Organisationen des sogenannten „Problemstadtteils“ Berlin-Neukölln versammelt, die eine bunte Mischung aus verschiedenen Kulturen und Organisationen bildeten. Gemeinsam wollen sie eine Bereicherung für diese Gesellschaft sein, als Christen, Muslime, Nichtgläubige friedlich miteinander leben und gemeinsam für ihren Stadtteil aktiv werden. Diese Veranstaltung ist ein Beispiel für gelebte Vielfalt.[1]

Die Bürgerplattform WIN gehört zu den Berliner Bürgerplattformen, die nach dem Ansatz des Broad-Based Community Organizing (BBCO) arbeiten. Um möglichst große und heterogene Bürgerplattformen zu gründen, wird im Community Organizing von Beginn an mit möglichst allen Organisationen einer Stadt oder eines Stadtteils Kontakt aufgenommen, gleich welcher Religion, welcher Kultur oder welchen Geschlechts die Mitglieder sind. Bei WIN arbeiten über 30 Mitgliedergruppen an den Themen Arbeitsplatzqualifizierung für junge Erwachsene, öffentlicher Raum sowie öffentliche Sicherheit.

Die Berliner Bürgerplattformen

Die erste Community Organization nach dem Prinzip des BBCO wurde im Jahr 2002 in Berlin-Schöneweide unter dem Namen „Menschen verändern ihren Kiez/Organizing Schöneweide“ offiziell gegründet. Entstanden war die Bürgerplattform durch die Arbeit von Leo Penta, der im Rahmen seiner Lehrtätigkeit als Professor für Gemeinwesenarbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin mit Studierenden ab 1999 erste Sondierungsgespräche im Stadtteil Schöneweide führte. Diese Plattform war die erste, die völlig unabhängig von staatlichen Mitteln einen professionellen Organizer einstellte. „Organizing Schöneweide“ konnte im Jahr 2004 nach einer lang angelegten Aktionskampagne den ersten Erfolg verbuchen und den Standort der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW, damals FHTW) nach Schöneweide holen. Der Stadtteil, der nach dem Mauerfall durch die Stilllegung der Industrie mehr und mehr verödete, erlebte eine Wiederbelebung.[2]

Die bislang größte und heterogenste Plattform „Wir sind da“ in Berlin Wedding/Moabit mit rund 40 Gruppen verschiedener Religionen, Kulturen und Generationen feierte ihre Gründung mit über 1.200 Menschen Ende 2008. Diese Plattform konnte ihren ersten Erfolg im Bereich Job-Center der Agentur für Arbeit erreichen. Nach mehreren Verhandlungen mit dem Leiter der Arbeitsagentur können die „Kunden“ des Job-Centers Mitte ihre Anliegen nun verstärkt telefonisch klären, statt lange Wartezeiten in Kauf nehmen zu müssen. Zudem wurden neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt und im Umgang mit Migrantinnen und Migranten geschult. Weitere Themen sind die teilweise katastrophalen Zustände des öffentlichen Raums sowie Bildung.

Die Plattform in Schöneweide wurde im Mai 2012 unter dem Namen „SO! Mit uns“ neu gegründet. Weitere Organisationen aus dem Südosten Berlins schlossen sich der Plattform an und neue Themenfelder kamen auf die Tagesordnung – beispielsweise die Kampagne für eine bedarfsgerechte Ärzteansiedlung und -verteilung im Bezirk, bei der Schöneweide eng mit der Bürgerplattform WIN kooperiert.

Die drei Berliner Plattformen arbeiten bei lokal übergreifenden Themen zusammen und veranstalteten zum Beispiel eine Befragung der Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl des Berliner Bürgermeisters im Jahr 2011. Insgesamt bringen die drei Plattformen fast einhundert zivilgesellschaftliche Gruppierungen in Berlin zusammen.

Begleitet werden die Plattformen durch das Deutsche Institut für Community Organizing (DICO)[3] unter der Leitung von Prof. Dr. Leo J. Penta, ein Institut der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, das seine Arbeit im Jahr 2006 zur Unterstützung der Plattformen aufnahm.[4]

Was sind Bürgerplattformen?

Begründer des BBCO ist Saul D. Alinsky (1909–1972), Sohn jüdischer Einwanderer und aufgewachsen im jüdischen Ghetto in Chicago. Während seines Studiums der Archäologie an der University of Chicago belegte er ebenfalls Kurse der amerikanischen Soziologen Ernest Burgess und Robert Park, Leiter der „Chicago School of Sociology“ und Mitbegründer der Stadtsoziologie. Im Zuge seiner Forschungstätigkeit für Clifford Shaw, Leiter des Chicago Area Projects (CAP) zur Bekämpfung von Jugendkriminalität in den Slums von Chicago, gelangte Alinsky in die „Back of the Yards“, das Viertel hinter den Schlachthöfen von Chicago, und baute dort die erste „Bürgerplattform“ auf – das „Back of the Yards Neighbourhood Council“ (BYNC).[5]

Community Organizing ist ein Handlungsansatz bürgerschaftlichen Engagements mit dem Ziel, mächtige Bürgerorganisationen (Bürgerplattformen) aufzubauen und so Veränderungen im Umfeld einer Stadt bzw. eines Stadtteils zu bewirken. Die Organisation muss dabei so gut sein, dass die Bürgerinnen und Bürger auf Augenhöhe mit den Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Verwaltung verhandeln und Erfolge erzielen können, die zentrale Belange des lokalen Umfelds betreffen. Kernpunkt ist die Organisation von unterschiedlichen Institutionen der Zivilgesellschaft einer Stadt, einem Stadtteil oder einer Region (Vereine, Kirchengemeinden, Moscheen, Schulen etc.) zur Verbesserung der Lebensbedingungen durch Machtaufbau.[6]

Dabei unterscheidet sich Community Organizing von anderen Konzepten nicht zuletzt dadurch, dass es außergewöhnlich viel Zeit und Energie in die Aufbauphase investiert. In dieser bauen die Menschen einer Region öffentliche Beziehungen auf, lernen die Interessen der anderen kennen und bilden Vertrauen für die gemeinsame Arbeit. Diese Phase kann bis zu zwei Jahren in Anspruch nehmen.

Die Strategie des Community Organizing zielt darauf ab, nicht einzelne Bürgerinnen und Bürger, sondern bereits existierende Selbstorganisationen und Netzwerke zu einer großen und vielfältigen Bürgerplattform zusammenzuführen. Erst wenn die Bürgerplattform gegründet ist, wird gemeinsam entschieden, an welchen Themen gearbeitet wird. Erst danach beginnt die Aktionsphase, in der die Akteure sich für zentrale Belange des Stadtteils stark machen.

An dieser Stelle wird ein weiterer Unterschied zu anderen zivilgesellschaftlichen Konzepten wie Bürgerinitiativen deutlich: Im Community Organizing geht es zunächst darum, stark zu werden, um dann zu entschieden, wofür man sich stark macht. Bürgerinitiativen bilden sich hingegen, weil die Menschen sich für bestimmte Belange stark machen wollen. Damit können sie zwar viel erreichen, jedoch verschwinden die Bürgerinitiativen als zivilgesellschaftliche Kraft in der Regel, sobald das ursprüngliche Problem gelöst ist. Zudem bearbeiten Bürgerplattformen häufig mehrere Themen, wie die Beispiele der Berliner Plattformen zeigen.

Community Organizing zielt auf Dauerhaftigkeit. Die zivilgesellschaftlichen Kräfte schließen sich primär zu einer Bürgerplattform zusammen, um gemeinsam mehr zu bewirken als mit ihren einzelnen Selbstorganisationen und Netzwerken. Erst nach dem Zusammenschluss wird in einem basisdemokratischen Prozess entschieden, welche Themen für sie Priorität besitzen. Häufig werden in der Aktionsphase auch Alternativvorschläge ausgearbeitet, um sich für statt gegen eine Sache einzusetzen. Zentral ist dabei immer das Agieren auf Augenhöhe. Daher gehören zum Konzept des Community Organizing immer auch Strategien, mit denen bürgerschaftliche Selbstorganisationen in erfolgreiche Verhandlungen mit Vertreterinnen und Vertretern von Politik und Verwaltung eintreten können.[7]

Grundprinzipien des Community Organizing

Von seinen Vertreterinnen und Vertretern wird BBCO als eigene Kultur betrachtet, die sich aus folgenden Bestandteilen zusammensetzt:

1. BBCOs sind im sogenannten „dritten Sektor“ der Gesellschaft angesiedelt, dem Sektor der intermediären Organisationen (Kirchen, Moscheen, andere religiöse Assoziationen, Gewerkschaften, Vereine, Schulen etc.). Sie gehen von der Prämisse aus, dass die in diesem Sektor lebenden Menschen über eigene „Führungskräfte“ (leader), eine eigene Agenda, eigene Dynamiken und eigenes Geld verfügen sollten, statt den Sektoren „Markt“ und „Staat“ zu folgen.

Die Zivilgesellschaft ist ein essenzieller und integraler Bestandteil eines gesunden Gemeinwesens und einer funktionierenden Gesellschaft. BBCOs agieren in diesem Bereich, da den marginalisierten und an den Rand gedrängten Gruppierungen der Gesellschaft hier die besten Möglichkeiten gegeben werden können, Fähigkeiten zu erwerben, die sie noch nicht ausgebildet haben und die ihnen normalerweise nicht zugetraut werden.

Auch wenn die Zivilgesellschaft im sogenannten „dritten“ Sektor der Gesellschaft angesiedelt ist, sollte sie nach dem Verständnis des BBCO im Grunde als „erster“ Sektor betrachtet werden, da die Sektoren „Staat“ und „Markt“ ohne die Basis zivilgesellschaftlicher Assoziationen keine Handlungsbasis und keine Funktion besitzen. Es besteht eine Interdependenz der drei Sektoren, die als solche von den ersten beiden Sektoren oft nicht wahrgenommen wird. So schreibt Leo Penta:

„Die zukunftsweisende Herausforderung für die deutsche Bürgergesellschaft lautet also: Kann sie gegenüber Staat und Markt eine derartige Augenhöhe erreichen, dass sie ein echter, anerkannter Partner, ein streitbares und seriöses Gegenüber wird. Nur so kann sie den Platz einnehmen, der ihr in einer lebendigen Demokratie gebührt, denn eigentlich ist sie nicht der ›dritte Sektor‹ der Gesellschaft, sondern der erste. In ihr bestehen die Beziehungen des Respektes und des Vertrauens, ohne die Staat und Markt nicht bestehen können.“[8]

2. Eine der Hauptaufgaben des BBCO ist der Aufbau von Macht durch das Organisieren von Menschen und Geld. Hierbei geht es jedoch nicht vorrangig um Service- und Dienstleistungen oder um die Behandlung bestimmter Themen, sondern um das Aufbauen einer Macht durch das geduldige Organisieren von Menschen und Geld, die dann im zweiten Schritt bestimmte Themen bearbeiten. Die daraus entstehende Machtbasis ist in der Lage, Druck auszuüben, Lösungen vorzuschlagen, Machthabende bzw. Entscheidungsbevollmächtigte von Staat und Wirtschaft zum veränderten Handeln zu bewegen und Lösungen auszuhandeln.

3. Der Kern dieses Machtaufbaus ist relational und liegt innerhalb der Beziehungen der BBCOs. Die Methoden dazu sind: individual relational meetings, konstante Machtanalyse, konstante Ausbildung und Bildung der beteiligten Menschen sowie konstante Aktion und Evaluation.[9]

Zusammengefasst sind die Grundprinzipien der Arbeit einer BBCO Folgende:

  • Mitgliedschaft von Institutionen aus der Zivilgesellschaft: Organisation von Organisationen, heterogen und vielfältig;
  • Relational Organizing: Aufbau einer „Kultur der Beziehungen“ auf der Basis der Selbstinteressen der Beteiligten;
  • Machtaufbau zur Veränderung sozialer und ökonomischer Verhältnisse;
  • Aus- und Weiterbildung der Schlüsselpersonen in einer Community;
  • konkretes Handeln durch konkrete Aktionen und Aktionskampagnen;
  • finanzielle Unabhängigkeit vom Staat.[10]
Fazit

Das Beispiel der Bürgerplattformen verdeutlicht, dass Vielfalt die Geduld und das Aufeinanderzugehen der unterschiedlichsten Menschen braucht, und zwar von Beginn an. Auf Basis gemeinsamer Interessen und einer guten Organisation sind „Normalbürgerinnen und -bürger“ unterschiedlicher Herkunft in der Lage, gemeinsam für Belange des organisierten Sozialraums einzutreten und erfolgreich Veränderungen zu bewirken. Zentral ist hierbei, dass nicht die Verschiedenartigkeit wahrgenommen wird, sondern das Gemeinsame sowie vor allem die Wahrnehmung der Mitstreitenden als Menschen mit den gleichen Interessen.

Demokratisches Handeln wurde uns nicht in die Wiege gelegt, sondern muss gelernt werden. Im gemeinsamen Handeln und Aushandeln, im Trainieren der Begegnung mit den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung, im Planen einer Strategie sowie im Ausarbeiten von Lösungen liegt die Lernfelder der Bürgerplattformen, die den Vorbehalt gegen Andersartigkeit überwindbar machen. Es braucht nur seine Zeit.

 

Der Text basiert auf einem Vortrag bei der Tagung „Wie geht eigentlich gute BürgerInnenbeteiligung“ der Stiftung Leben und Umwelt – Heinrich-Böll-Stiftung Niedersachsen am 15. Juli 2015.

 

[2] Vgl. Renner, Gisela / Penta, Leo (2014): Community Organizing in Deutschland in: Foco e.V. / Stiftung Mitarbeit (Hrsg.): Handbuch Community Organizing. Theorie und Praxis in Deutschland, Verlag Stiftung Mitarbeit, Bonn, S. 47 ff.

[4] Vgl. ebd.

[5] Vgl. Horwitt, Sanford D. (1989): Let them call me Rebel. Saul Alinsky: His Life and Legacy, Vintage Books, New York, S. 39 f.; Szynka, Peter (2006): Theoretische und Empirische Grundlagen des Community Organizing bei Saul. D. Alinsky, Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen, S. 17 ff.

[6] Vgl. Renner, Gisela (2013): Inszenierung von Öffentlichkeit. Broad-Based Community Organizing betrachtet im Licht der Theaterpädagogik, Verlag Helmut Lang, Münster, S. 21 ff.

[7] Vgl. Renner, Gisela (2014): „Entwicklung und Inszenierung von Bürgermacht“ – Strategien des Community Organizing in: Strassburger, Gaby / Rieger, Judith (Hrsg.): Partizipation in Sozialen Professionen, Beltz Juventa, Weinheim und Basel, S. 141 ff.

[8] Penta, Leo J. (2008): Community Organizing und die gestaltende Bürgergesellschaft. Warum Gutes-Tun allein nicht ausreicht. In: Dettling, Daniel (Hrsg.): Die Zukunft der Bürgergesellschaft. Herausforderungen und Perspektiven für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 192.

[9] Vgl. Gecan, Michael (o. J.): Community Organizing as culture (unveröffentlichtes Typoskript).

[10] Vgl. Renner (2013), S. 134 ff.

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