Demokratiedialog in Stuttgart: Wie sollten sich Parteien in Zeiten des Populismus verhalten?

Demokratiedialog in Stuttgart: Wie sollten sich Parteien in Zeiten des Populismus verhalten?

Jasmin Siri, Winfried Kretschmann und Peter Siller beim Demokratiedialog in Stuttgart
"Ich war bei direkter Demokratie schon immer skeptisch", sagt die Soziologin Jasmin Siri im Gespräch mit Winfried Kretschmann und Peter Siller — Bildnachweise

Direkte Demokratie war Teil des grünen Gründungsmythos. Winfried Kretschmann und andere einstige Befürworter/innen sehen sie heute kritisch. Was bleibt Parteien, wenn die rationale Basis der Debatte schwindet? Der Bericht vom Demokratiedialog in Stuttgart.

Unter dem Titel „Aktualität und Erneuerung: Ein Update der Parteien in Zeiten des Populismus“ fand am 8. Oktober 2016 im Stuttgarter Literaturhaus ein Demokratiedialog statt. Auf Einladung der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg, der Petra Kelly Stiftung und des Heinrich-Böll-Stiftungsverbunds diskutierten über 150 Zuhörerinnen und Zuhörer über die Zukunft der politischen Parteien vor dem Hintergrund, dass europaweit – und in jüngster Vergangenheit massiv auch in Deutschland – rechtspopulistische Parteien wie die AfD erstarkt sind und damit auch die demokratischen Parteien vor neue Aufgaben stellen.

Die ganztägige Veranstaltung in Stuttgart war Teil des bundesweiten Projekts „Gut vertreten? Update für Demokratie" des Heinrich-Böll-Stiftungsverbunds, das jetzt nach drei Jahren intensiver Diskussion in fünf bundesweiten Demokratiedialogen zu den Themenschwerpunkten "Beteiligung", "Parteien" und "Inklusion" eine Bilanz zog.

Zu Anfang des mit 150 Zuhörerinnen und Zuhörern gut besuchten Demokratiedialogs „Aktualität und Erneuerung: Ein Update der Parteien in Zeiten des Populismus“ umreißt Heike Schiller, Vorsitzende der Heinrich Böll Stiftung in Baden-Württemberg, in ihren einleitenden Worten die Agenda.

Die Parteien – auch die Grünen – seien Organisationen, „um deren Ansehen es in der Bevölkerung nicht gut bestellt ist“, sagt sie unter Verweis auf die Agitation von Pegida, AfD und Co., die nicht davor zurückschreckten, von „Alt-" oder „Systemparteien“ zu sprechen und damit die Unterschiede zwischen den demokratischen Parteien negierten. Unter Verweis auf den so genannten Brexit und das nahezu flächendeckende Erstarken rechter Bewegungen spricht sie von Europa als „fragilem Haus, in dessen Zimmern derzeit gezündelt wird.“

Dass ein solcher Kongress nicht ohne tagesaktuellen Hintergrund konzipiert wird, versteht sich von selbst, die Wahlerfolge der AfD sollten dann während der insgesamt sechsstündigen Zusammenkunft immer wieder Gegenstand der Diskussionen und Debattenbeiträge sein. Ob der dabei immer wieder verwandte Begriff des „Populismus“ der geeignet zur Beschreibung des Phänomens sei, stellt Schiller unter Verweis auf die einschlägige Forschung infrage.

Direkte Demokratie bedeutet nicht automatisch gesellschaftlichen Fortschritt

Das Spannungsfeld liege zwischen der von dem Bremer Politologen Lothar Probst vertretenen Ansicht, dass Demokratie auch Populismus brauche und der jüngst in einem bei Suhrkamp verlegten Essayband formulierten These von Jan-Werner Müller, der im Populismus den Keim des Anti-Demokratischen sieht. Auch vor diesem Hintergrund stelle sich also an diesem Samstag die Frage, wie sich Parteien verändern, „updaten“ müssten, um für die Herausforderungen besser gewappnet zu sein.

Kurz zuvor hatte Winfried Kretschmann den großen Saal des Literaturhauses betreten. Zwei Tage vorher war sein Aufsatz „Schluss mit dem Moralisieren“ in der ZEIT erschienen, der zum Leidwesen des Ministerpräsidenten in der öffentlichen Wahrnehmung zunächst auf eine einzige Passage reduziert wurde. Und zwar um den offenbar augenzwinkernd gemeinten Zusatz „und das ist auch gut so“ im Anschluss an die Feststellung, dass die meisten Menschen sich für die institutionalisierte Ehe als Form des dauerhaften Zusammenlebens entscheiden. So ungerecht und unredlich er diese Verkürzung finde, so Kretschmann, das nicht mitgedacht zu haben, mache er sich zum Vorwurf.

Kretschmann skizziert nun die Rahmenbedingungen, unter der Politik anno 2016 gemacht werde und greift dabei auch einzelne Aspekte seines ZEIT-Aufsatzes auf. „Das internationale Umfeld ist schwieriger geworden, Großmachtstreben und Geopolitik sind zurückgekommen.“ Die Handlungsspielräume der Politik seien dadurch eingeschränkt. Doch gerade deshalb müsse Europa eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart sein, nicht zuletzt auf die internationalen Migrations- und Fluchtbewegungen könne Politik schließlich nur in kollektiven Systemen antworten.

Wie darin, und damit auch in den Parteien in den Nationalstaaten, die Willensbildung organisiert sei und welche Rolle dabei plebiszitäre Elemente spielen – all das seien die Fragen, denen sich die Teilnehmer in den folgenden Stunden widmen würden. Kretschmann gibt zu erkennen, dass er selbst eine weitgehende direkte Demokratie deutlich kritischer sieht als noch vor einigen Jahrzehnten.

„Es war eine naive Vorstellung zu glauben, dass mit einer Volksabstimmung und direkter Demokratie automatisch gesellschaftlicher Fortschritt verbunden sei.“

Sowohl die Abstimmung zu „Stuttgart 21“ als auch das Brexit-Votum beweise das Gegenteil. Schon im alten Athen habe man hingegen gewusst, dass Demagogie die Achillesferse der Demokratie sei.

"Wir können uns nur auf die Vernunft berufen"

Andererseits, so Kretschmann, dürfe diese Skepsis nicht als Werben für eine strukturkonservative, unreformierte Parteiendemokratie missverstanden werden. Im deutschen Grundgesetz sei schließlich auch die Rede davon, dass die Parteien an der Willensbildung „mitwirkten“, nicht dass sie sie monopolisierten. „Wir müssen uns auch fragen, wo ihre Grenzen liegen.“ Des Weiteren dürfe man trotz UKIP und Pegida nicht vergessen, dass es nach wie vor eine politisch wache Öffentlichkeit gebe. Vielleicht sei die derzeit sogar wacher denn je, sagt er unter Verweis auf zehntausende Menschen, die seit Monaten und Jahren dauerhaft in der Flüchtlingshilfe aktiv sind: „Über Nacht ist eine der größten Bürgerbewegungen in der Geschichte der BRD entstanden, als mächtiges Gegengewicht zum Rechtspopulismus.“

Für Außenstehende mag es trotz des optimistischen Endes der Kretschmann-Rede überraschend gewesen sein, zu beobachten, wie weitgehend die Skepsis vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegenüber der direkten Demokratie mittlerweile gediehen ist.
Dr. Jasmin Siri, derzeit Inhaberin einer Professur für „Politische Soziologie“ an der Uni Bielefeld, formuliert dann auch drei Thesen, die diese Skepsis artikulieren.

  1. „Direkte Demokratie ist nicht per se emanzipatorisch“
  2. Es gibt nicht mehr die Öffentlichkeit, sondern nur noch mehrere Öffentlichkeiten. Die Parteien sind deshalb dafür da, Kollektive zu bündeln und zu organisieren.
  3. Und, last but not least, eine dritte These, die später in einem der Workshops für Widerspruch sorgen sollte. „Organisationen sind nicht toll“, sagte Siri. Es mache „letztlich keinen Spaß, sich in ihnen zu engagieren“.

Bei der anschließenden Podiumsdiskussion, moderiert von Peter Siller, Leiter der Inlandsabteilung der Heinrich-Böll-Stiftung, treffen Siri und Kretschmann als Diskutanten aufeinander. Wobei sich die beiden zuweilen eher in der Perspektive – hier die Wissenschaftlerin, da der verantwortungsethische Praktiker – unterscheiden. Der bekennende Katholik Kretschmann stellt seinen Erörterungen ein grundsätzliches Bekenntnis voraus: „Wir können uns als unterschiedliche Menschen nur auf Vernunftgründe berufen, nicht auf Gefühle oder Glauben.“

Ein "Denk-Moratorium" für Volksentscheide

So zutreffend das sei, entgegnet Siri, so eröffne doch genau dieses Gebot des rationalen Diskurses ein Einfallstor für die Demagogie von rechts. Das Schüren von Ängsten könne der Politik so stets „davonflutschen“. „Ich war bei direkter Demokratie schon immer skeptisch. Das mag an meinem Adorno-Konsum gelegen haben."

Insofern stelle sich die Frage, ob man Emotionen mit Fakten begegnen könne, oder ob man dadurch zulasse, dass Kommunikation wie auf parallel verlaufenden Schienen nebeneinanderher ablaufe.

Dass genau dies möglich sei, glaubt hingegen Winfried Kretschmann. Zumindest wenn es gelinge, die wirklichen Ängste aus der Wut herauszudestillieren. Hinter der Gegnerschaft zu Windrädern stehe beispielsweise oftmals eher die Meinung, diese verschandelten optisch die Natur als das leicht widerlegbare Argument des Flächenverbrauchs. Und die behauptete „Flüchtlingskrise“ sei in Wahrheit auch oft nur ein Katalysator für Abstiegs- und Verlustängste.

Dass solche Ängste oft irreal seien, ändere jedoch nichts an ihrer Wirkungsmächtigkeit. Und das müsse Folgen für die Debatte um direkte Demokratie haben:

„In der Schweiz ist die direkte Demokratie über alle politischen Lager hinweg sakrosankt. Sie hat auch gut funktioniert, allerdings nur bis zum Aufstieg der SVP.“

Der einzig gangbare Weg angesichts dieses Dilemmas sei ein reflektierendes Innehalten in der Diskussion um die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene, ein „Denk-Moratorium“, nicht verstanden als Phase des Aufschiebens, sondern als Zeit für ein Nachdenken darüber, welche Leitplanken zu definieren sind, um sicherzustellen, dass Volksentscheide zu mehr und nicht zu weniger Demokratie führen.

Erneut ist man also wieder beim Thema der direkten Demokratie angelangt. Wenig überraschend, schließlich waren viele im Saal früher glühende Verfechter der direkten Demokratie. Doch dieser Teil des grünen Gründungsmythos, das wurde im Laufe des Samstag Nachmittags offensichtlich, wird von vielen zunehmend kritisch gesehen.

Shitstorms: Medientraining oder Rückzug?

Die letzten Minuten vor der Mittagspause sind dann Jasmin Siri vorbehalten, die eine These formulierte, die erstaunlicherweise im Plenum weder auf Widerspruch noch auf Empörung stieß:

„Durch den Aufstieg der AfD werden Menschen sichtbar, die vorher unsichtbar waren. Die kulturelle Hegemonie des bürgerlichen Establishments, das auch die Grünen vertreten, ist damit passé“.

Die Parteien treffe der Aufstieg der AfD allerdings zu einem Zeitpunkt, da sie ohnehin verwundbar seien. Angesichts der in vielen Beiträgen – auch aus dem Publikum – artikulierten Verärgerung über Vehemenz und Ausprägung der Wutbürger-Äußerungen im Internet empfiehlt sie Gelassenheit und einen nüchternen Blick auf das Phänomen: „Der Shitstorm ist ein medialer Effekt, nicht etwas, das wissenschaftlich gelesen werden könnte.“ Folgerichtig empfehle sich Medientraining, nicht der Rückzug aus der Politik.

Dass genau der allerdings derzeit von vielen Politikern erwogen werde, lässt hingegen Winfried Kretschmann durchblicken. Ein renommierter Journalist habe ihm kürzlich berichtet, er habe den Eindruck, dass viele Spitzenpolitiker derzeit den Abschied aus der Politik planten – aus Frustration über die Allgegenwart der Empörungsspirale im Netz, die auch vor übelsten Beleidigungen nicht Halt mache.

Nach dem Mittagesse beginnt in drei parallel stattfindenden Foren die zweite Phase des Demokratiedialogs, die sich in einen Workshop („Partei? Ohne mich!“ oder „Partei? – beleben!“ Erneuerungspfade für Parteien auf der Höhe der Zeit), ein so genanntes „Forum“ (Populist/innen in den Parlamenten – Herausforderungen für die Parteien“) und eine Podiumsdiskussion aufgliederte, die den Titel „Parteien im Spannungsfeld von Repräsentation und Beteiligung“ trägt.

Forum: Populist/innen in den Parlamenten – Herausforderungen für die Parteien

Das Thema des Forums, de facto der Rechtspopulismus in deutschen Landtagen und im Europäischen Parlament, wird nicht ausschließlich unter dem Fokus diskutiert, welche Auswirkungen er für die klassischen Parteien hat. Während Madeleine Henfling, Landtagsabgeordnete in Thüringen und der Göppinger MdL Alexander Maier aus der parlamentarischen Praxis berichten und dabei immer wieder auch auf die Herausforderungen eingehen, die die AfD-Fraktionen für die eigene Arbeit bedeuten, kommt Dr. Britta Schellenberg (Uni München) zuvor der Bitte des Moderators, dem Politik-Redakteur der Stuttgarter Zeitung, Dr. Knut Krohn, nach, eine fachliche Einordnung einer Partei zu liefern, die sich so gerne als Verkünderin zu Unrecht tabuisierter Wahrheiten stilisiert und jede inhaltliche Nähe zum Rechtsextremismus von sich weist.

Schellenberg, eine der profiliertesten Rechtsextremismus-Expertinnen des Landes, betont, die AfD vereine sehr wohl die klassischen Elemente der extremen Rechten in ihrer Agitation. So werde „das Volk“ als homogene Einheit gesehen, negiert werde deshalb, dass es unterschiedliche Interessen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen gibt, so dass die Fiktion von einem starken Regierungschef, der die „wahren“ Interessen des Volkes repräsentiere, vertreten werde.

Man präsentiere sich als Systemalternative zum Status Quo, in dem sowohl die Journalist/innen als auch die Politiker/innen fremden Interessen unterworfen („Lügenpresse“, „Altparteien“) seien. Klassische Einordnungen, beispielsweise in ein Rechts-Links-Schema, in dem die kleine linke Tageszeitung „Junge Welt“ anders zu verorten wäre als der „Bayernkurier“ und die Linkspartei anders als die Union, würden so als nicht existent, oder zweitrangig dargestellt.

Die AfD vertrete nicht nur bestehende Ressentiments, sie spitze sie vielmehr zu und diene als Katalysator für Organisationen wie Pegida und deren Ableger und umwerbe gezielt Polizei und Geheimdienste.

Kein Gespräch, ohne angebrüllt zu werden

Knut Krohn zeigt sich hingegen zunächst überrascht, dass eine Partei überhaupt noch besteht, der er selbst noch vor wenigen Monaten ein rasches Ende prophezeit hätte. Sowohl im Europaparlament als auch im Stuttgarter Landtag, wo er jeweils als Beobachter vor Ort war, habe sich die Partei bekanntlich schon früh „zerlegt“, dann jedoch bedauerlicherweise ein gesamtdeutsches Revival erfahren. In diesem Zusammenhang erinnerte er an die infame Aussage des stellvertretenden Parteivorsitzenden Alexander Gauland, der im Zusammenhang mit den Flüchtlingssituation davon gesprochen hatte, man könne „diese Krise ein Geschenk für uns nennen".

Im Folgenden berichten die beiden Landtagsabgeordneten aus der parlamentarischen Praxis in Erfurt und Stuttgart und damit von interessanten Parallelen zwischen Ost und West – auch im Bezug auf die Qualität der öffentlichen Debatte. Hier taten sich interessante Parallelen auf, ungeachtet der grundsätzlichen Erkenntnis, dass sich die Einstellungsmuster in Ost und West in diversen Parametern (Gewaltbereitschaft, Akzeptanz schwieriger Entscheidungsprozesse, Homogenität der Gesellschaft) noch stark unterscheiden, wie Schellenberg und Henfling erläutern.

Sowohl in Thüringen als auch in Maiers Göppinger Wahlkreis ist es offenbar derzeit kaum noch möglich, rational und ruhig zu argumentieren. „Ich komme kaum noch mit Bürgern ins Gespräch, ohne spätestens nach fünf Minuten angebrüllt zu werden“, berichtet auch Maier.

Keine Basis für eine rationale Debatte

Eine Besonderheit dieser „Gespräche“, so Henfling, sei, dass von den Flüchtlings-Feinden mit „anekdotischer Evidenz“ argumentiert werde, Einzelfälle würden ohne mit der Wimper zu zucken verallgemeinert. „Ein Geflüchteter, der gewalttätig geworden ist, wird dann als Beweis dafür genommen, dass alle gewalttätig sind“.

Für die Parteien sei es schwierig, nahezu unmöglich, dagegen anzugehen. Wenn Fakten und Statistiken per se nicht mehr als evident angesehen würden, da sie der Hörensagen-Kolportage zuwiderlaufen, entfalle die Basis jeder rationalen Debatte. Auf dieses Dilemma – das wird schließlich am Ende auch eine der Schlussfolgerungen des Nachmittages sein – hat allerdings noch keine Partei eine Antwort gefunden.

Auch was die parlamentarische Praxis angeht, herrscht Einigkeit. Der Alltag ist offenbar sowohl in Stuttgart als auch in Erfurt von Provokationen seitens der AfD geprägt. Deren Strategie sei weder die Mitarbeit noch die Suche nach einem Kompromiss, sondern die Erregung maximaler (auch medialer) Aufmerksamkeit, berichtet Maier aus dem Alltag im Stuttgarter Landtag. Inhaltlich habe die Partei hingegen auf fast allen Themenfeldern nichts zu bieten. „Am Ende dreht sich jedes Thema um Flüchtlinge“. Umso erstaunlicher sei es, so Maier, dass die demokratischen Parteien keine souveräne Antwort auf die Provokationen der AFD gefunden hätten.

„Wir alle springen noch zu oft über das Stöckchen, das sie uns hinhalten. Sie schaffen es, dass nur noch über sie und ihre Tabubrüche geredet und der Parlamentarismus lahmgelegt wird.“

In der abschließenden Diskussion wirft Margarete Bause, Grünen-Fraktionsvorsitzende im bayrischen Landtag, die Frage auf, ob man das Parlament nicht auch als Bühne für eine Wertediskussion nutzen könne. So könne das Parlament wieder ein Forum für relevante Debatten werden, die die demokratisch gesonnene Öffentlichkeit einbinden.

Podiumsgespräch: Parteien im Spannungsfeld von Repräsentation und Beteiligung

Im von der Freiburger Journalistin Ulrike Schnellbach moderierten Podiumsgespräch treffen Sarah Händel, Landesgeschäftsführerin von „Mehr Demokratie e.V.“, die Europa-Abgeordnete und langjährige Parlamentarierin Rebecca Harms und der Freiburger Politologe Prof. Dr. Ulrich Eith aufeinander.

Rebecca Harms, die seit 2004 im Europaparlament sitzt, schildert zunächst, wie sie – gewählt als profilierte Anti-AKW-Aktivistin – ihre erste Zeit als junge Abgeordnete im niedersächsischen Landtag erlebt hat, nämlich als „permanente Überforderungssituation“. Expertentum und Kompetenz seien erst nach Monaten zu erlangen, aber unerlässlich – ein kaum verklausuliertes Votum gegen allzu viel basisdemokratischen Elan.

Sarah Händel macht hingegen nachdrücklich auf die (Demokratie-) Defizite nicht zuletzt des Brüsseler Alltags aufmerksam und wehrt sich gegen die „Fiktion“, der parlamentarische Diskurs sei rationaler als es eine offene Debatte unter mündigen Bürgern je sein könne. Lobbyismus und Fraktionszwang verunmöglichten schließlich nur allzu oft zweckrationale Entscheidungen und seien wirkungsmächtige Faktoren. Darauf entgegnet Harms, dass beispielsweise die von Händel formulierte Kritik am Aushandlungsprozess von CETA und TTIP kein Votum gegen den EU-Parlamentarismus sein dürfe. „Stattdessen brauchen wir eine bessere Funktion der parlamentarischen Demokratie“.

"Wir lösen die Probleme nicht ohne Bürgerbeteiligung"

Immer wieder kommen auch aus dem Publikum überraschend grundsätzliche Bedenken gegenüber Volksabstimmungen. Eine Wortmeldung wirft die Frage auf, wie wohl in einer medial aufgeheizten Situation eine Volksabstimmung über die Einführung der Todesstrafe ausfallen würde. Die langjährige Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Birgitt Bender gibt zu bedenken, dass Abstimmungen nicht per se befriedend wirken müssen: „Viele Stuttgart-21-Gegner haben das Votum eben mitnichten akzeptiert.“ Eine Skepsis, die von Prof. Dr. Ulrich Eith durchaus geteilt wird.

Plebiszitäre Elemente hält er nach wie vor für eine sinnvolle Ergänzung des Parlamentarismus – allerdings nur auf kommunaler Ebene. Hier sollten die Hürden für Bürgerbegehren weiter gesenkt werden. Und zwar bundesweit. „Baden-Württemberg ist da schon auf einem recht guten Weg.“ Eine Übertragung des Schweizer Modells auf die Berliner Republik lehnt Eith ab.

Doch es gibt auch andere Stimmen. Solche, die „nach wie vor davon überzeugt sind, dass Volksabstimmungen ein Mittel gegen Politikverdrossenheit sein können“, wie eine Zuhörerin formuliert. Applaus brandet ebenfalls auf, als sich eine Zuhörerin zu Wort meldet und sagt:

„Wenn wir sagen, wir binden die Bevölkerung stärker ein, dann finden wir doch auch Mittel und Wege dafür. Wir lösen die Probleme nicht, wenn wir den Menschen keine Möglichkeiten geben, sich zu beteiligen.“

Workshop: „Partei? Ohne mich!“ oder „Partei? – beleben!“ Erneuerungspfade für Parteien auf der Höhe der Zeit

Bei dem von Dr. Gerd Rudel von der Petra-Kelly-Stiftung moderierten Workshop berichten vor allem junge Politikerinnen und Politiker, dass sie mit einem sehr negativen Image ihrer Arbeit konfrontiert sind. Die Unterstellung, man werde von egoistischen Motiven („sein Schäfchen ins Trockene bringen“) angetrieben, ist da offenbar ebenso häufig anzutreffen wie der Vorwurf, man sei weltfremd, verfüge über keinerlei Expertise im echten, (also im Berufs-) Leben und sei überhaupt Teil eines „schmutziges Geschäfts“. In Baden-Württemberg, so eine Teilnehmerin, werde man zudem u.a. in Uni-Zusammenhängen mit der Sichtweise konfrontiert, man gehöre einem „spießigen“, ja „konservativen“ Landesverband an. Und das, wo man sich doch selbst als „links“ verorte.

Offenbar empfinden sich junge Politikerinnen und Politiker sogar mittlerweile parteiübergreifend als Leidensgenossen.

„Da gibt es größeres wechselseitiges Verständnis zwischen jungen Politikerinnen und Politikern aus unterschiedlichen Fraktionen als zwischen Politikern und Nicht-Politikern.“

Auch im Plenum, in dem naturgemäß mehrheitlich aktive Politikerinnen und Politiker saßen, wird bei den teils recht drastischen Schilderungen immer wieder empathisch genickt. „Es ist befremdlich, wenn man mit dieser Außenwahrnehmung konfrontiert wird, wir selbst sehen es ja so, dass wir uns für das Allgemeinwohl engagieren.“

"Politik kann Spaß machen, sie kann sogar Heimat bieten"

Im Workshop kommt auch die am Vormittag von Dr. Jasmin Siri formulierte Sicht, die Arbeit in Organisationen sei eine nützliche, aber vollkommen unerfreuliche Beschäftigung, nicht gut weg. „Politik kann doch großen Spaß machen“, argumentiert eine Vertreterin der Grünen Jugend. „sie kann sogar Heimat bieten.“ Sie blickte daraufhin in viele nickende Gesichter.

In einem zweiten Teil wird daraufhin thematisiert, wie die politische Arbeit vor Ort so strukturiert werden könne, dass Interessierte, Neu- und Jungmitglieder nicht nach wenigen Wochen wieder das Weite suchen.

„Wir brauchen mehr niederschwellige Angebote“, sagt der Heidelberger Kreisvorsitzende Florian Kollmann.

„Man nutzt das Potenzial der Partei vor Ort oft nicht ansatzweise. Viele Menschen, die uns immer wählen, aber aus irgendwelchen Gründen nicht Mitglied sein wollen, lassen sich projektbezogen prima einbinden.“

Das werde in Heidelberg erfolgreich praktiziert, sei aber auch dort noch ausbaufähig, so Kollmann weiter.

Auch andere vergleichsweise leicht umzusetzende Maßnahmen werden als Vehikel gegen die Parteienverdrossenheit ausgemacht. Um Endlossitzungen zu vermeiden, empfählen sich gestraffte Tagesordnungen und ein von Vorneherein festgelegtes Veranstaltungsende. Die Vehemenz der Zustimmung legt den Verdacht nah, dass das noch nicht in allen Kreisverbänden als Binsenweisheit gilt. Die Einschätzung, dass tatsächlich viele Anliegen, die jungen Menschen wichtig sind, in den Mühlen vermeintlicher und tatsächlicher Sachzwänge zermahlen werden, teilen allerdings auch die meisten hier im Plenum.

Abschlussdiskussion

Nach einer kurzen Kaffeepause wird pünktlich um 16 Uhr die von Andreas Baumer moderierte Abschlussdiskussion eröffnet, der gleich zu Beginn noch einmal das Tagungsmotto in Erinnerung ruft: „Wie soll es also aussehen, das Update der Parteien?“ Mit Peter Siller, dem österreichischen Politologen Dr. Werner T. Bauer, Bettina Gaus, politische Korrespondentin der taz, und Margarete Bause ist das Podium prominent besetzt. Peter Siller eröffnet mit einer grundsätzlichen Feststellung: „Es gehört zu den Kernaufgaben der Partei, den Raum für Entscheidungen zu öffnen und sinnvolle Alternativen zu benennen.“

Es sei verkürzt, Parteien auf die Artikulation der unterschiedlichen, in einer Gesellschaft herrschenden Interessen zu reduzieren. Ihre Aufgabe sei viel eher, um unterschiedliche Interpretationen des Gemeinwohls zu werben.

Margarete Bause, die den ganzen Tag über den Veranstaltungen gefolgt war, wirft nun vom Podium aus eine Frage auf, die den ganzen Tag über immer wieder angeklungen war. Die, ob in Zeiten, in denen jede Partei von CDU/CSU bis Linkspartei grundsätzlich in mehreren Konstellationen koalitionsfähig sein wolle, Kontroversen und Unterschiede verschwänden, und ob dadurch der Anreiz, an einer Wahl teilzunehmen, weil man wirklich eine Wahl hat, nicht schwinde.

„Ich plädiere dafür, Kontroversen nicht unter dem Deckel halten. Es kann zu einer Wiederbelebung der Demokratie beitragen, wenn wir Streitpunkte klar benennen und zur Diskussion stellen. Aus falscher Rücksichtnahme schrecken wir zu oft davor zurück.“

Europas Dilemma

Bettina Gaus kritisiert daran anschließend, dass man „keine institutionalisierte Opposition in Europa und eine ausgehöhlte Gewaltenteilung“ vorfinde und sieht darüberhinaus ein grundsätzliches Dilemma, das sie sogar für „unauflösbar“ hält:

„Es besteht darin, dass wir nach wie vor national wählen, aber dass immer mehr Probleme supranational entschieden werden. Auch die Fraktionen im Europaparlament entscheiden oft nach nationalstaatlichen Gesichtspunkten. Ein schwedischer Sozialdemokrat ist da einem schwedischen Konservativen häufig näher als einem französischen Parteifreund.“

Von den nationalen Debatten könne deshalb

„keine große Strahlkraft ausgehen. Es ist kein Zufall, dass die großen Debatten nur noch von Symbolischem handeln“ Das liege zum einen am beschriebenen Kompetenzzuwachs der europäischen Ebene, aber eben auch daran, dass „alle Parteien koalitionsfähig sein wollen.“

Auf dem Feld der Tagespolitik sei es wichtig, „den Populisten nicht hinterherzurennen.“ Das gelte auch für Grüne. Auf Nachfrage von Madeleine Henfling, die im Zuschauerraum Platz genommen hat und wissen will, wer konkret gemeint sei, nennt sie Boris Palmer.

Nun kommt Werner Thomas Bauer zu Wort. Der Wiener Ethnologe und profilierte Politikberater hat höflicherweise bis dato ausgeharrt und gewartet, bis er zu einem Redebeitrag aufgefordert wurde. Er greift die eingangs von Heike Schiller zitierte Probst-These auf, wonach Populismus nicht per se im Widerspruch zu Demokratie stehen müsse. Ja, es gebe sogar einen „guten Populismus“. Als Beispiel führt er einen Grazer Kommunalpolitiker an, der für seine Partei, die KPÖ, lokal große Erfolge erziele, obwohl die kommunistische Partei auch in der Alpenrepublik landesweit nie eine erwähnenswerte Bedeutung hatte.

„Man weiß von ihm, dass er – ohne das an die große Glocke zu hängen – einen Teil seines Einkommens spendet und sich wirklich um das Thema der Mieten kümmert, bei dem sich viele Menschen ansonsten von den Parteien nicht gut vertreten fühlen.“

Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die auch in Österreich einer schweren Strukturkrise unterworfen ist, sind die Grünen gut aufgestellt. Sie haben einen großen Fundus an potenziellen Mitarbeitern aus NGOs, während bei anderen Parteien, vor allem in der europäischen Sozialdemokratie, die Vorfeldorganisationen erodieren. Darunter leide auch das Niveau des Personals, womit eine weitere Abwärtsspirale in Gang gesetzt werde. „Die SPÖ ist vom Schmoren im eigenen Saft nicht mehr wiederzuerkennen.“

Peter Siller erntet derweil einige Lacher aus dem Publikum, als er in Anlehnung an ein Kanzlerin-Wort ein Plädoyer für die Parteiendemokratie einleitet: „Wir schaffen das.“ Die auch aus dem Publikum heraus immer wieder artikulierte Einschätzung, dass es heutzutage an charismatischen Persönlichkeiten fehle, greift er auf und stellt die Frage in den Raum, wie es sein könne, dass es nicht die perfekten, makellosen Menschen seien, die in der Beliebtheitsskala oben stehen, sondern die Kretschmanns, Grönemeyers und Springsteens. „Professionalisiert euch nicht noch weiter. Sondern denkt mal wieder öfter laut nach“ wird mit langem Applaus bedacht, hier wurde offenbar ein Nerv getroffen.

Der Bericht des freien Journalisten Christoph Ruf erschien zuerst auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg; weiter Fotos der Veranstaltung finden Sie hier. Die Berichte weiterer Demokratiedialoge:

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