Politik jenseits des Freund-Feind-Schemas

Politik jenseits des Freund-Feind-Schemas

Entscheidet nicht immer im Sinne des Gemeinwohls: Blick in den Bundestag — Bildnachweise

In Parlamenten besteht eine Tendenz zur Abgrenzung und zur Blockade. Partizipative Beteiligungsverfahren könnten das parteipolitische Freund-Feind-Schema aufbrechen und mit eigenen Vorschlägen Druck auf die Parlamente aufbauen.

Unsere Demokratie unterliegt derzeit einer Vielzahl von Veränderungen und Entwicklungen, die unsere demokratische Herrschaftsausübung beeinflusst. Unter repräsentative Demokratie fällt das klassische Institutionsgefüge aus Parlamenten, Gemeinderäten, Parteien und Verwaltungen sowie eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Darüber hinaus gibt es die direkte Demokratie, die sich in eine top-down- und eine bottom-up-Variante unterteilen lässt. Eine dritte Variante wäre die partizipative Demokratie, die sich zurzeit sehr schnell verbreitet und weiterentwickelt. Damit sind in erster Linie jene neuen Formen der dialogorientierten Bürgerbeteiligung gemeint, wie sie beispielsweise auf der Beteiligungsplattform “Participedia” weltweit gesammelt und kategorisiert werden.

Die verschiedenen Verfahren bringen Bürgerinnen und Bürger sowie Expertinnen und Experten aus Verwaltung, Wissenschaft und Unternehmen zusammen. Die Beteiligten – variierend zwischen wenigen und vielen Hundert – beraten über einen definierten Zeitraum – zwischen wenigen Stunden und mehreren Tagen – und streben gemeinsame Lösungen im Sinne des Gemeinwohls an. Ziel ist, dass die Beratungen unter fairen und gerechten Bedingungen stattfinden, inklusiv sind und durch eine unabhängige Moderation umgesetzt werden. Damit sind Formate wie Planungszellen, Runde Tische, Bürgerversammlungen, Konsensuskonferenzen etc. gemeint.

Varianten der Partizipation

Ein besonders interessantes Format sind die Bürgerräte, die in Vorarlberg/Österreich entwickelt und erprobt wurden. Dies ist ein kostengünstiges und wenig aufwendiges Kleinformat, mit dem dort gute Ergebnisse erzielt werden. Bürgerräte in Vorarlberg ergänzen die Willens- und Meinungsbildung in Parlamenten und Gemeinderäten sowohl auf der kommunalen als auch auf der Landesebene sinnvoll und haben auch den Weg in die Landesverfassung Vorarlbergs gefunden. Die dialogorientierten Beteiligungsverfahren haben verschiedene Funktionen: In Anlehnung an Archon Fung[1] lässt sich zwischen den Funktionen “informieren”, “konsultieren” und “co-governance” unterscheiden.

Betrachtet man nun ausschließlich die ersten beiden Beteiligungsmöglichkeiten – informieren und konsultieren –, würden diese nach Frank Nullmeiers[2] Definition nicht als demokratisch gelten, weil sie kollektiv bindende Entscheidungen nicht direkt erzeugen. Aus meiner Sicht sind diese Verfahren sehr wohl demokratisch, weil sie in einem größeren Kontext von Demokratie stattfinden und dort eine ganz wesentliche Funktion erfüllen. Sie unterstützen die Meinungs- und Willensbildung, sei es in der Öffentlichkeit, in der Verwaltung oder in den Parlamenten, und ergänzen diese sinnvoll.

Wir finden heute ein System zusammengesetzter Repräsentation vor: Das heißt, auf den Ebenen von Kommunen und Ländern müssen wir mit den verschiedenen Varianten von Repräsentation arbeiten und leben – seien es repräsentative, direkte oder partizipative Demokratieformen. Die Herausforderung ist es, Systeme zu schaffen, die das sinnvoll miteinander vereinen und verzahnen. Dabei kann es extrem sinnvoll sein, wenn die in der Repräsentativdemokratie an Politik und Verwaltung delegierte Herrschaftsausübung durch qualifizierte Meinungs- und Willensbildung in Form dialogischer Verfahren mit Bürgerinnen und Bürgern sowie Expertinnen und Experten ergänzt wird.

Krise der repräsentativen Demokratie

Die aktuelle Krise der repräsentativen Demokratie lässt sich in verschiedenen Varianten beschreiben. Dabei kann man sich auf bestimmte Phänomene relativ schnell einigen: Die Wahlbeteiligung sinkt; die Parteien haben Probleme, Mitglieder zu halten bzw. zu gewinnen; ihre Funktion, die Gesellschaft zu durchdringen, können die Parteien kaum noch erfüllen; es mangelt der Politik sowie den Politikerinnen und Politikern an Anerkennung (nicht generell, aber bei bestimmten Institutionen und Akteuren, die im massenmedialen Wettbewerb um Zustimmung und Wählerstimmen stehen); und die Zufriedenheit in Bezug auf Einzelentscheidungen sinkt.

Die Ursachen dafür sind gar nicht zwingend im institutionellen Aufbau der Demokratie zu suchen, sodass sich die Probleme auch nicht unbedingt über die Veränderung von demokratischen Systemen lösen lassen. Stattdessen stellt die Krise einen Teil eines umfassenden sozialen Wandels in den westlichen Demokratien dar. Die Leute werden gebildeter, die Leute werden kritischer gegenüber der Politik und die Gesellschaften differenzieren sich immer weiter in unterschiedliche gesellschaftliche Milieus, die durch die Politik kaum noch zufriedengestellt werden können. Dieser Wandel lässt sich über viele Länder trotz unterschiedlicher institutioneller Varianten der Demokratie in der westlichen Welt hinweg beobachten. Die Krise scheint also relativ unabhängig von den institutionellen Ausformungen der Demokratie zu sein. Ein Indiz für die These des sozialen Wandels.

Nichtsdestotrotz ist es wichtig, über vernünftige Korrektive und Weiterentwicklungen der repräsentativen Demokratie nachzudenken. Die heutige Repräsentativdemokratie weist bestimmte Mängel auf. Sie bietet bestimmte systemische Anreize, die nicht gut sind, um kollektiv bindende Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls zu treffen. Dazu folgende Beispiele:

  1. Die Kritik an der kurzfristigen Orientierung der Politik an Wahlperioden ist ziemlich platt, aber beinhaltet viel Wahrheit. Politikerinnen und Politiker sind um Zustimmung und Wählerstimmen bemüht und somit daran interessiert, dass ihre Leistungen schnell und für jedermann sichtbar wahrgenommen werden, um den eigenen Machterhalt in Abstimmungen und Wahlen zu sichern. Langfristige Lösungen, die vielleicht erst nach vielen Jahren Wirkung zeigen, kommen in dieser Logik anderen zugute und sind für den politischen Machterhalt daher weniger wichtig.
  2. Politikerinnen und Politiker neigen zu einem Freund-Feind-Schema, um den Unterschied zum politischen Gegner stark zu machen und diesen in einem möglichst schlechten Licht darzustellen. Über die Massenmedien und ihre Berichterstattung wird die Differenz des Freund-Feind-Schemas noch verstärkt, sodass Zusammenarbeit und Konsens in der Politik nur selten honoriert werden. Die Folge ist zuweilen, dass Entscheidungen stärker nach Eigeninteressen, strategischen Zielen und Abgrenzungslogiken von Parteien anstatt im Sinne des Gemeinwohls gefällt werden.

Die Strategien der kurzfristigen Orientierung werden in der Politik oft kombiniert mit sogenannten dilatorischen Methoden der Konfliktbearbeitung und Kompromissfindung. Probleme in der Politik werden folglich verschoben und an die folgenden Regierungen übergeben. Die Verantwortung für die Zukunft wird an die nächste Regierung weitergereicht, die dann selbiges versucht. Klimawandel und Endlagersuche für den Atommüll sind klassische Beispiele. Entscheidungen werden hier systematisch immer weiter in die nächste Wahlperiode geschoben. Zukünftige Generationen und deren Interessen kommen in diesem System zu kurz. Am Ende bekommen wir ein massenmedial vermitteltes Bild von Politik in der Öffentlichkeit, das eher negativ ist, weil drängende Probleme nicht gelöst werden, Machterhalt im Vordergrund steht sowie Differenz und Taktieren das Geschehen prägen statt die gemeinsame Suche nach Lösungen.

Kanalisierung von Konflikten

Die Repräsentativdemokratie steckt in der Krise. Die direkte Demokratie ist flächendeckend eingeführt und institutionalisiert, hat die Krise aber nicht gelöst. Die dritte Variante ist die partizipative Demokratie. Sie ist auf dem Vormarsch. In der Regel werden die Verfahren hierbei eher unsystematisch und kurzfristig umgesetzt; das heißt, wenn Konflikte entstehen, werden Verfahren wie Runde Tische und Mediationen ad hoc initiiert. Auf der Ebene der Institutionalisierung, zum Beispiel in Form von Gemeindeordnungen, Verwaltungseinheiten und Qualitätsleitfäden, sind diese Formen bisher nur selten angekommen, auch weil noch nicht wirklich klar ist, wie die Potenziale im Konkreten und vor allem auf der systemischen Ebene aussehen.

Es gibt einfach noch nicht genug Systeme, in denen über einen längeren Zeitraum hinweg die unterschiedlichen Demokratieformen nebeneinander existieren, wo also Repräsentativdemokratie, direkte Demokratie und partizipative Varianten in einer institutionalisierten Fassung über einen längeren Zeitraum unter qualitativ guten Bedingungen bestehen. Das wäre die Voraussetzung, um zu schauen, wie sich dies auf die politische Kultur auswirkt bzw. auch auf die Wahrnehmung der politischen Akteure und des Systems.

Theoretisch bieten die partizipativen Formen in ihrer Online- und auch in ihrer Face-to-Face-Variante gewisse Vorzüge, die bestimmten Mängeln der repräsentativen Demokratie begegnen können. Das wäre zum Beispiel die Kanalisierung von Konflikten und Blockaden in Parlamenten, unter anderem bei der Endlagersuche oder bei klassischen Infrastrukturkonflikten wie dem Trassenausbau im Zuge der Energiewende. Räte oder dialogische Verfahren haben die Möglichkeit, Konfliktparteien unter einer unabhängigen Moderation zusammenzubringen. So kann es gelingen, die Unterschiede der Konfliktparteien herauszuarbeiten und am Ende gemeinsame Lösungen zu finden. Dafür bieten sich diese Verfahren an. Werden Konflikte hingegen nur über die Öffentlichkeit geführt, entsteht in der Regel eine Verstärkung des Konflikts. Das Aufbrechen des Freund-Feind-Schema gelingt so nicht.

Demokratische Kultur weiterentwickeln

In Parlamenten besteht ebenfalls eine klare Tendenz zur Abgrenzung voneinander, sodass nötige Entscheidungen blockiert oder verschoben werden. Dieses Problem kann zumindest in Teilen durch dialogische Beteiligungsverfahren aufgelöst werden, da die teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger sowie Expertinnen und Experten in der Regel durchdachte Vorschläge entwickeln, die dann im Parlament nicht einfach abgelehnt werden können, weil ein großer öffentlicher Druck besteht. Dieser öffentliche Druck, Entscheidungen gut und schlüssig begründen zu müssen, steigert die Begründungsleistung der Politik.

Die langfristige Orientierung könnte zudem erhöht werden, wenn man an Zukunftskammern denkt. Gibt man den Kammern den Auftrag, über die Zukunft nachzudenken, entwickeln sie in der Regel sehr gute Empfehlungen. Durch das Laienwissen in Kombination mit konsultierten Expertinnen und Experten wird dann auf der Qualitätsebene oft mehr erreicht als in der klassischen Repräsentativdemokratie, wo häufig mit wenigen Ressourcen in der Verwaltung, aber auch in den Parteien innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen vorbereitet werden müssen. Im Vergleich dazu ist die Leistung dieser Gremien nicht allzu schlecht.

Zudem schaffen diese Verfahren – zumindest bei den Leuten, die daran teilnehmen – ein hohes Maß an Verständnis für die Komplexität politischer Prozesse. Die staatsbürgerliche Orientierung wird gefördert und die demokratische Kultur kann sich langfristig weiterentwickeln, sofern die Verfahren flächendeckend institutionalisiert werden.

Grenzen der Beteiligung

Ungleichheitsverhältnisse in der Gesellschaft sind ein ganz wesentlicher Faktor, der Probleme erzeugt: Zeit, Einkommen, Vermögen. Auf der Individualebene wissen wir schon sehr lange, dass dies Prädikatoren zur Vorhersage für Beteiligung sind. Aber auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ist das ein handfestes Problem, weil die reale Ausübung der Freiheitsrechte dadurch extrem eingeschränkt wird.

Zu den Hindernissen bei dialogorientierten Verfahren gehören zudem Verwaltungsprozesse, die nicht geöffnet werden, weil sie durch die Verwaltung vermachtet sind: Planfeststellung und Raumordnungsverfahren sind Beispiele dafür. Diese sind für die klassischen dialogischen Verfahren in vielerlei Hinsicht inkompatibel.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die schlechte Umsetzung: Extrem viele Verfahren sind lediglich symbolischer Natur, vernachlässigen wichtige normative Aspekte zur Gestaltung der Verfahren, überführen die Ergebnisse am Ende nicht in Verwaltungshandeln oder machen sich nicht mal die Mühe, die Nichtberücksichtigung der Ergebnisse zu begründen. Das ist das Gegenteil von dem, was mit ernsthafter Politik im Sinne dieser dialogischen Verfahren gemeint ist. Beteiligungsverfahren sind ein Phänomen, das die Demokratie belebt. Sie werden die Krise der Repräsentativdemokratie in der Breite nicht lösen können, aber sie sind ein Beitrag, um dieses System in vielerlei Hinsicht zu verbessern.

Der Beitrag basiert auf einem Vortrag bei der Tagung "Update Repräsentation und Beteiligung" der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen am 10. Oktober 2014.


[1] Archon Fung ist ein amerikanischer Politikwissenschaftler und Professor für Demokratie und Bürgerschaft an der Harvard University’s Kennedy School of Government. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf Transparenz in öffentlichen und privaten Verwaltungen sowie Partizipativer Demokratie.

[2] Frank Nullmeier ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen und Leiter der Abteilung “Theorie und Verfassung des Wohlfahrtsstaates” des Zentrums für Sozialpolitik. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich der Politischen Theorie sowie der Sozialpolitikforschung und Wohlfahrtsstaatstheorie.

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